Der mit der Zeitmaschine reist

GROSSE BÜHNE Alvis Hermanis ist mit seiner Wiener Inszenierung „Platonov“ beim Berliner Theatertreffen dabei

VON ESTHER SLEVOGT

Die Zusammenhänge von Theater und Technologie sind nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen. Schon gar nicht in den Inszenierungen von Alvis Hermanis mit ihren ebenso detailversessenen wie vergangenheitsberauschten Bühnenbildern. Minutiöse Rekonstruktionen von Alltagsverrichtungen wie das Anlegen und Schnüren aufwändiger Korsagen und Garderoben lassen beim Zuschauer schnell den Eindruck entstehen, das Theater sei eine Zeitmaschine, die den barrierelosen Transport in die Vergangenheit möglich macht.

Hermanis selbst beschreibt sich gern als Anhänger eines Old-School-Theaterbegriffs und wird gelegentlich als eine Art Urenkel des russischen Theatererneuerers Konstantin Stanislawski betrachtet. Der ist ziemlich genau hundert Jahre älter als Alvis Hermanis, der 1965 in Riga geboren wurde, das damals noch in der Sowjetunion lag. In Riga lebt Hermanis heute noch immer. Inzwischen ist das die Hauptstadt der Republik Lettland. Zwischen Hermanis’ Abschluss seines Schauspielstudiums im Jahr 1988 und dem Beginn seiner Regiekarriere ist die Sowjetunion untergegangen. Seit 1997 ist er Intendant des Neuen Theaters in Riga (Jaunais Rigas Tetris), wenn er nicht gerade in Berlin, Zürich, Wien oder München inszeniert. Oder internationale Theaterpreise abräumt, wie 2007 in Thessaloniki den Europäischen Theaterpreis „New Theatrical Realities“, den österreichischen Theaterpreis Nestroy, den Hermanis 2010 für seine Tracy-Letts-Inszenierung „Eine Familie“ erhielt.

In der Tradition von Konstantin Stanislawski

Bereits das Theater Konstantin Stanislawskis hatte mit seinem manischen Verhältnis zur minutiösen Wirklichkeitsrekonstruktion auf die Industrialisierung der Wahrnehmung durch die Fotografie und die Technisierung des Alltags um 1900 reagiert. Der dem unmittelbaren Blick sich entziehenden technisierten Welt setzte das Stanislawski-Theater ihre mikroskopische Vergrößerung auf der Bühne entgegen.

Dieser Vergrößerung kann man im Theater von Alvis Hermanis tatsächlich wiederbegegnen. Sie erscheint nun jedoch in dem Maße potenziert, wie in den hundert Jahren, die seit Stanislawskis Theaterrevolution inzwischen vergangen sind, die Technik, Kapitalismus und die Digitalisierung die allgemeinen Lebensverhältnisse weiter entfremdet haben. So scheint dem Theater heute die Aufgabe zugewachsen zu sein, die medialen Oberflächen zu dekonstruieren, als die Wirklichkeit gegenwärtig oft nur erscheint. Hermanis will hingegen die Existenzbedingungen des Einzelnen physisch erfahrbar machen.

Dies genau geschieht in seinen Theaterarbeiten. Zum Beispiel in seiner Inszenierung von Maxim Gorkis 1910 entstandenem Drama „Wassa Schelesnowa“: Es geht um die Besitzerin einer Schifffahrtsgesellschaft, die von den raubtierkapitalistischen Verhältnissen ihrer Zeit in eine furchterregende menschliche Kälte, ins Verbrechen getrieben wird. An den Münchner Kammerspielen ließ Hermanis (mit Hilfe seiner Ausstatterin Kristine Jurjane) dieser Wassa einen Tag lang beim Leben zuschauen: Sie steht auf, wäscht sich an der Waschschüssel neben ihrem Bett, wird von Dienstmädchen angezogen, kniet zum Morgengebet auf einem Bänkchen nieder. Am Abend, beziehungsweise dreieinhalb Theaterstunden später, legt sie sich dann an derselben Stelle wieder zur Ruhe.

In der Zwischenzeit hat man beobachten können, wie der ökonomische Existenzkampf Familienbeziehungen zerrüttet, Seelen korrumpiert, wie Morde geplant und ausgeführt, Testamente gefälscht und Existenzen zerstört werden.

Gutes Russland, schlechtes Russland

Das Leben aber, und vor allem das Geschäft, geht weiter. Auch wenn das Licht längst erloschen ist, das die minutiös damalige Lebenswelten bis ins Detail nachstellende Breitwandszenerie erhellt hat, und auch die Taubenkäfige an der Rampe wieder verdeckt sind, deren Gurren in Echtzeit den Abend mit einer naturalistischen Tonspur unterlegt hatte. Gutes Russland, schlechtes Russland. So war es vor hundert Jahren, so ist es heute noch immer. Auch das Gegenwärtige wird an diesem Abend mit Händen greifbar, selbst wenn es dem Zuschauer im historischen Gewand einer untergegangenen Epoche erscheint.

Seit der Oktoberrevolution war die Rezeption vorrevolutionärer russischer Stoffe wie „Wassa“ von der Tatsache geprägt, dass hier nicht nur eine Lebens-, sondern eine Gesellschaftsform ihrem unabwendbaren Hinweggefegtwerden durch das Proletariat entgegenging, dieser ultimativen Siegermacht der Geschichte. Doch nun ist auch diese Revolution – samt der an sie geknüpften Hoffnungen – vom Lauf der Dinge hinweggefegt worden.

Das kalte Geld fräst wie schon hundert Jahre zuvor auch heute noch tiefe Schneisen in die Substanz von Gesellschaften und Seelen, höhlt Existenzbedingungen aus. Das ist eine Geschichte, die Hermanis besonders in seinen Inszenierungen vorrevolutionärer russischer Stoffe immer und immer wieder erzählt.

So wirken die todmüden und verbrauchten Gestalten, die die Welten der Tschechows, Gorkis oder Gontscharows bevölkern und die Hermanis in den letzten Jahren besonders beschäftigt haben, wie Untote, die ebenso wenig von der Geschichte erlöst worden sind, wie wir Bewohner der Gegenwart.

Das ist ein Befund, zu dem man auch in Hermanis’ fünfstündiger Wiener Inszenierung von Anton Tschechows Erstlingsdrama „Platonov“ gelangen kann, die dieses Wochenende beim Berliner Theatertreffen zu sehen ist.

Auch hier zeigt sich die Lebenswelt der Figuren als akribisch rekonstruierte Oberfläche aus Möbeln, Garderoben und Alltagsgegenständen, untermalt vom Rascheln der Röcke und Roben, Uhrticken oder Vogelgezwitscher aus dem Garten im Hintergrund der Szenerie. So wirken die Figuren des Dramas erst recht wie Gefangene der materiellen Bedingungen ihrer Epoche, die ihnen Sein und Bewusstsein diktiert.

Wie genau diese Bedingungen sich in Körper und Seelen der Figuren einschreiben, hat Alvis Hermanis in seiner Annäherung an Alexander Puschkins Versepos „Eugen Onegin“ in der Berliner Schaubühne erzählt. Dort treten die Schauspieler zunächst in heutiger Alltagskleidung auf, um sich dann in einem offengelegten Rechercheprozess langsam in die Figuren zu verwandeln, die sie spielen. Schließlich gehen sie in die Demonstration über, in welcher Weise Garderoben und Ankleidetechniken wesentliche Grundlagen des Selbstbildes des Einzelnen wie des gesellschaftlichen Zusammenlebens sind: wie also äußere Bedingungen aus Menschen diejenigen Wesen machen, als die sie uns (nicht nur auf der Bühne) schließlich erscheinen.

Die akribische Offenlegung dieser Bedingungen ist ein wesentliches Moment des Theaters von Alvis Hermanis, das damit auch am Siegellack der Benutzeroberflächen unserer Gegenwart kratzt.