piwik no script img

Gefühle sind behandelbar

Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ liegt jetzt in Hamburg: Für die Errichtung des totalitären Wohlfühlstaats im Thalia Gaußstraße unterwirft sich Amir Reza Koohestani der literarischen Vorlage

Eingekastelte Wildnis, Menschen als Multiple: Alles ist so schön auf der Bühne des Thalia Gaußsstraße. Unerträglich schön Foto: Armin Smailovic/Thalia Theater

Von Paul Weinheimer

Ein Gerüst aus Pflanzen und Blumen, die um etliche Flachbildschirme ranken: So hat Bühnenbildnerin Mitra Nadjmabadi in der Hamburger Gaußstraße die „Schöne neue Welt“ geformt. Der hier so einleuchtend gestaltete Kontrast von Natürlichem und Artifiziellem steht gleichermaßen für die Prot­ago­nis­t*in­nen des Stücks. Wie in Aldous Huxleys Romanvorlage sind das John Savage (Johannes Hegemann), „der Wilde“, und Lenina Crowne (Pauline Rénevier), eine Vorzeigebürgerin der „Schönen neuen Welt“. Während sie deren Werte verinnerlicht hat, lernt er sie erst kennen. Er kommt aus „dem Reservat“, einer abgeschlossenen Community, die den Bür­ge­r*in­nen der „Schönen neuen Welt“ als Wildnis erscheint.

Regisseur und Autor Amir Reza Koohestani hat aus Huxleys Klassiker gemeinsam mit seinem Co-Autor Keyvan Sarreshteh eine Bühnenfassung entwickelt, die sich ganz auf die Kernaussage konzentriert: die Warnung vor einem totalitären Wohlfühlstaat. In der „Schönen neuen Welt“ sind alle Menschen glücklich: „Hier gibt es keine schlechten Emotionen und kein schlechtes Gewissen“, erklärt Lenina zu Beginn. Eigentlich ist in diesem Wohlfühlstaat kein Platz für „die Wilden“, außer zum Arbeiten. Für John wird jedoch eine Ausnahme gemacht: Sein Vater ist immerhin ein hohes Tier in der „Schönen neuen Welt“.

Der Einbürgerungstest verlangt totale Durchleuchtung: „Umso mehr Information wir kriegen, umso schneller können wir dich einbürgern“, versucht Lenina Johns Zweifeln entgegenzuwirken. 3D-Fotos, Typ-Bestimmung und Aminosäuren-Abgleich ergeben schlussendlich: John ist ein Alpha-Plus. Der höchste Rang im Kastensystem der „Schönen neuen Welt“. Während die Gammas nur stupide Arbeiten verrichten und stark eingeschränkt sind, haben die Alphas hervorragende Gene und sind für Größeres geschaffen.

Johns romantisches Interesse an ihr lehnt Lenina brüsk ab. So etwas wie Liebe gibt es in der „Schönen neuen Welt“ nicht. Gefühle sind ein Systemfehler: Eine Gefahr für das Wohlbefinden. Sex habe sie trotzdem gerne mit ihm. Promiskuität gehört hier zum guten Ton: Schließlich sollen ja alle glücklich und zufrieden sein.

Gegen Gefühle hilft die Droge Soma. Die soll laut Bernhard Marx (Stefan Stern) auch gegen Johns Affinität zu Shakespeare helfen: „Kunst beschäftigt sich mit Unglück, deshalb haben wir die Kunst geopfert für ein Leben in Stabilität.“ Nach seiner ersten Dosis beginnt, begleitet von sphärischer Musik und einem simulierten Sternenhimmel, die Indoktrination: „In der neuen Welt sind alle glücklich, Ehe ist Sklaverei, alles, was du dir wünscht, ist, hier zu sein“.

Trotz aller Abneigung gegen die Wildnis ist sie ein beliebter Urlaubsort für die Menschen aus der „Schönen neuen Welt“: ein exotisches Abenteuer. Gerade als frisch eingebürgerter Wilder scheint John prädestiniert für die Leitung des neu eröffneten Erlebnisparks, dessen Attraktion die Wildnis ist. Theatervorführungen sollen hier die Be­woh­ne­r*in­nen unterhalten. Bloß kon­trovers darf es nicht sein. Trotzdem nutzt John das Theaterspielen subversiv, um Lenina mit Shakespeare seine Liebe zu gestehen. Das fiktive Publikum lacht. Was folgt, ist ein Systemfehler: Es kommt zum romantischen Kuss zwischen Lenina und John.

3D-Fotos, Typ-Bestimmung und Aminosäuren-Abgleich ergeben: John ist ein Alpha-Plus

Lenina hinterfragt durch diese neue Erfahrung die Werte der „Schönen neuen Welt“. Der Wille zur Konformität bricht zusammen und mündet in einer karthatischen Schlussszene, in der John und Lenina ein Feuer legen. Die „Schöne Neue Welt“ und all ihre Überzeugungen brennen lichterloh. Die Inszenierung funktioniert gut. Johannes Hegemann überzeugt als der Systemfremde John. Ebenso schaffen es Pauline Rénevier und Stefan Stern, die vollends konditionierten Bür­ge­r*in­nen der „Schönen neuen Welt“ zu geben.

Auch 90 Jahre nach der Erstveröffentlichung leuchtet noch ein, welche Konflikte der Roman verhandelt, und wie er das tut: Es geht um Freiheit gegen Sicherheit, die Angst vor dem Anderen, die Gefahr des Konformismus. Vor allem fokussiert Regisseur Amir Reza Koohestani jedoch die Erzählung der Revolution: Erst der Bruch mit dem vermeintlich Guten eröffnet die Möglichkeit einer besseren Welt. Die Antwort auf die Frage, wieso der Huxley-Stoff gerade jetzt von Interesse sein soll, wird von ihm dabei großzügig den Zu­schaue­r*in­nen überlassen.

Schöne Neue Welt. Wieder am 6. + 16. 2.; 5.,16. + 30. 3, Hamburg, Thalia Gaußstraße

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen