Das Neue im Alten

Die neue Linkspartei kann Erfolg haben. Die Orientierung an traditionellen Aufgaben ist dabei kein Hindernis. Aber es ist auch eine Öffnung zu Initiativen wie Attac vonnöten

Es gibt keine unüberbrückbare Kluft zwischen „traditionellen“ und „modernen“ Linken

Versteinerte Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, ist nicht so ganz einfach – vor allem nicht, wenn es sich um das deutsche Parteiensystem handelt. Sklerotisch wie sie sind, behaupteten sich die alteingesessenen deutschen Parteien der Nachkriegsgeschichte mit einem schier unglaublichen Beharrungsvermögen gegenüber Spaltungen wie Neugründungen. Was muss eigentlich passieren, damit ein solcher Gründungsversuch gelingt?

Instruktiv für die Beantwortung dieser Frage ist die einzig erfolgreiche Neugründung: die der Grünen Ende der 70er-Jahre. Wir können auf der objektiven Seite den ökologischen Problemdruck konstatieren, für dessen Lösung die etablierten Parteien überhaupt nicht gerüstet waren. Dieser Problemdruck eskalierte 1986 angesichts der Tschernobyl-Katastrophe, einem weithin sichtbaren Menetekel.

Subjektiv basierte die damalige Gründung auf dem Zusammenfluss mehrerer sozialer Bewegungen, die allesamt nicht nur von politischen, sondern auch persönlichen Fragen der Existenzsicherheit angetrieben wurden. Da die bestehenden Parteien nicht fähig waren, diesen Kraftstrom anzuzapfen, strömte er in die Alternativpartei.

Die rekrutierte ihr Personal hauptsächlich aus der Anti-AKW- und der Friedensbewegung: Wissenschaftler und Publizisten, vor allem aber tatendurstige Akteure, die von den abgehärteten Organisatoren aus dem K-Gruppen-Mikrokosmos in der Anfangsphase verstärkt wurden.

Eine erfolgreiche Parteigründung ist also in einer bestimmten glücklichen Konstellation möglich. Also: Brennende, ungelöste Problemlagen, angesichts derer die herkömmlichen Parteien paralysiert sind, treffen auf gesellschaftliche Energien. Dazu bedarf es einiger erfahrener, frustrationsresistenter Organisatoren – und emotional aufgeladener Ereignisse mit symbolstiftender Wirkung. Eine solche Konstellation öffnet „ein Fenster der Möglichkeiten“.

Wie sind die Chancen eines Wahlbündnisses von PDS und WASG im Licht dieser Kriterien zu beurteilen? Auf den ersten Blick ungünstiger als im Fall der Grünen. Zwar bedroht die Massenarbeitslosigkeit – das beherrschende Wahlkampfthema – potenziell alle – vom Hilfsarbeiter bis zum Manager; zwar hat Rot-Grün mit seinen Lösungsversuchen nichts bewirkt und außerdem gegen elementare, tief verankerte Gerechtigkeitsvorstellungen verstoßen. Gleichzeitig aber hat die schwarz-gelbe Alternative noch nicht öffentlich Schiffbruch erlitten. Den Rechten wird zwar nichts zugetraut, aber der Zorn trifft Rot-Grün. Diese matte Perspektivlosigkeit im öffentlichen Bewusstsein ist ziemlich abträglich für einen Parteigründungsprozess, der vom „Es reicht!“ ebenso beflügelt sein muss wie von der Begeisterung, Neuland zu betreten.

PDS wie WASG können auf ein bedeutendes gesellschaftliches Protestpotenzial und organisationskundige Kader verweisen. Es handelt sich bei den WASG-Aktivisten nicht um irrlichternde Flippies, sondern um gestandene Sozialdemokraten, meist mit gewerkschaftlicher Anbindung.

Bei der PDS haben wir eine Partei vor uns, die weit über das Arbeitermilieu im Osten hinausgeht, regional verwurzelt ist und keineswegs nur Protestwähler um sich schart. Ihre Kader streben zwar zunehmend dem Rentenalter zu, aber ideologisch ist sie nicht eingemauert. Mag zwischen den getrennten Bataillonen im Osten und Westen von der Geschichte und der Sozialisation her auch ein Abgrund klaffen. Mental sind sie miteinander verwandt, können zusammenfinden im Zeichen der guten alten Sozialdemokratie.

Dies ist freilich genau, was viele Leute, darunter auch viele Linke fürchten. Der WASG wird summarisch ein Gesellschaftsbild unterstellt, das sich an einem untergehenden Zustand des Kapitalismus orientiert. So ist der österreichische Publizist Robert Misik (taz 15. 6. 2005) der Meinung: Das Bündnis zehrt von der Vorstellung einer in der Großindustrie zusammengefassten, hierarchisch im Arbeitsprozess eingeordneten, dem Takt der Bänder folgenden Arbeiterklasse, also von der „fordistischen“ Produktionsweise.

Demzufolge stünde die Verteidigung des „Normalarbeitsverhältnisses“ im Mittelpunkt. An der Vollbeschäftigung als erreichbarem Ziel werde eisern festgehalten und dies um den Preis eines steuerverschlingenden, staatsfinanzierten Beschäftigungssektors. Dieser grauen, überholten, konservativen Grundhaltung stellt Misik das bunte, vielfältige, nach sinnerfülltem Leben strebende Volk der zeitgenössischen Linken gegenüber. Einer Verbindung des PDS/WASG-Projekts mit modernen, dezentralen, der Individualität Raum gebenden linken Initiativen und Einzelkämpfern gibt Misik keine Chance.

Doch stimmt das überhaupt? Gerade unter den linken, in Gewerkschaften aktiven Sozialdemokraten, also auch unter den WASG-Gründern, läuft seit Jahren eine Diskussion über die „Zukunft der Arbeit“ und über die Konsequenzen, die aus dem schrittweisen Niedergang der Großproduktion, den Auslagerungen, der „individualisierten“ Arbeit zum Beispiel im IT-Bereich zu ziehen sind. Der These, sich in der Gewerkschaftsarbeit „aufs Kerngeschäft“ zu konzentrieren, steht in diesen Diskussionen eine neue Position gegenüber: Man soll das eine nicht lassen, aber auch das andere tun. Also heißt es, sich mit gesellschaftlichen Bewegungen außerhalb des traditionellen Milieus zusammenzuschließen, mögen sie auch fremdartig anmuten.

PDS wie WASG können auf ein bedeutendes gesellschaftliches Protestpotenzial verweisen

Postfordismus bedeutet schließlich nicht, dass industrielle Großbetriebe und deren spezifische Ausbeutungsverhältnisse nicht mehr existierten oder dass der Kampf gegen die drohende gesetzliche Liquidierung des Flächentarifvertrags ins Leere laufen würde. Erst auf der Basis solcher, nur scheinbar partikularer Interessenverteidigung sind Bündnisse möglich – und nötig.

Wer sagt uns eigentlich, dass eine neue Linkspartei nicht in der Lage ist, sich zu entwickeln, „das Fenster zu öffnen“, sich von überkommenen Vorstellungen wie „Vollbeschäftigung ist möglich“ zu lösen? Zu behaupten, es existiere eine unüberbrückbare Kluft zwischen „traditionellen“ und „modernen“ Linken, zwischen kollektivem und individualisiertem Widerstand, steht nicht nur im Widerspruch mit der Entwicklung gesellschaftlicher Initiativen wie Attac, sondern auch mit der von linkssozialistischen Parteien wie in Skandinavien. So zu denken, heißt, kulturelle und soziale Unterschiede zu verabsolutieren.

Natürlich kann eine neue Linkspartei auf Dauer nicht nur aus der Addition heterogener Interessen bestehen. Sie bedarf eines Projekts, so wie die mittlerweile untergegangene grüne Vision „ökologische Reform der Industriegesellschaft“ einst das Projekt der Grünen war. Aber entgegen dem ersten Anschein können vom Gründungsakt des Bündnisses selbst neue programmatische Impulse ausgehen. Der auf der Gesellschaft lastende Druck ruft nach ihnen. Das ist die Melodie, die man, nach einem Wort des jungen Marx, den versteinerten Verhältnissen vorspielen muss. CHRISTIAN SEMLER