„Sie versprechen viel und machen nichts“

47 Millionen Iraner sind aufgerufen, einen Präsidenten zu wählen. Im Süden Teherans freut sich der Wahlleiter über den disziplinierten Verlauf der Abstimmung. Vor der Moschee gibt es aber viele, die aus Enttäuschung den Wahllokalen fern bleiben

AUS TEHERAN KARIM EL-GAWHARY

Es ist die einzige Wahl der Welt, an der die Wähler über edle Perserteppiche zu den Urnen schreiten. Am Eingang der Abu-Zar-Moschee im Süden Teherans streifen die Wähler zunächst ihre Schuhe ab, bevor sie auf den Teppichen in dem heiligen Gebäude ihrer nationalen Pflicht nachgehen. Die Frauen, fast alle im schwarzen Tschador rechts, die Männer links im gleichen Raum. „Es ist meine nationale und religiöse Pflicht, hier wählen zu gehen“, gibt die Hausfrau Lale, 42, einen in den letzten Tagen immer wieder im Staatsfernsehen wiederholten Wahlspruch wieder. Heute leitet nicht der Imam, sondern der Wahlleiter Hadsch Amiri die Geschicke in der Moschee, und er ist sichtlich stolz auf den disziplinierten Verlauf.

Der Ort ist nicht ohne Symbolkraft. Eine kleine Vitrine mit dem verkohlten Stück eines alten Kassettenrekorders erinnert an einen Bombenanschlag, bei dem Imam Chomeini drei Jahre nach der islamischen Revolution 1982 an dieser Stelle die Bewegungsfähigkeit seiner rechten Hand eingebüßt hatte. Der Zeitzünder war im Kassettenrekorder versteckt, mit dem die Attentäter vorgaben, die Rede Chomeinis aufnehmen zu wollen. „Der Ungläubige, der Heiliges verletzt, soll vom Feuer verbrannt werden“, lautet die Koransure am Mahnmal, direkt neben der Gebetsnische. Vieles hat sich seit diesen Tagen der islamischen Revolution verändert, manches aber auch nicht, wie der Geheimdienstmann auf der Galerie beweist, der sicherheitshalber den neugierigen Reporter ablichtet. Unweit des Wahllokales am Kaswinplatz stehen am gleichen Morgen mehrere hunderte Männer herum und warten auf Arbeit. Es ist die Stelle, an dem sich Teherans Bäckereien jeden Tag mit Tagelöhnern versorgen. Ob er wählen geht? Der 26-jährige Askal winkt ab: „Sie versprechen viel und machen nichts. Zehn Jahre habe ich in der Bäckerei gearbeitet, heute bin ich arbeitslos und versuche mich schwarz mit Gelegenheitsjobs durchzuschlagen“. In der Nähe hat trotz des islamischen Feiertages ein Sportartikelgeschäft geöffnet. Dessen am besten gehender Artikel: das weiße Trikot der iranischen Fußballmannschaft, die sich vor zwei Wochen für die Weltmeisterschaft in Deutschland qualifiziert hat. Der Ladenbesitzer, ein Versehrter aus dem iranisch-irakischen Krieg weiß noch nicht, ob er wählt: „Wahlen sind gut, wenn sie Veränderungen bringen. Wenn nicht, dann sind sie Blödsinn.“

Die Frage, wie viele der 47 Millionen Wahlberechtigten zur Wahl gehen werden, ist entscheidend. Nicht nur für die Legitimität des zukünftigen Präsidenten, sondern des ganzen Mullah-Staates. Die größten Aussichten hat Mullah Ali Akbar Rafsandschani, der pragmatische islamistische Reformer, der auf eine lange Politkarriere zurückblicken kann. Schafft er es allerdings nicht, 50 Prozent der Stimmen zu erhalten, wird es nächsten Freitag eine Stichwahl geben. Mit wem, ist die zweite Frage dieser nicht einfach vorhersehbaren Wahl. Macht der Reformkandidat Mustafa Moin oder der Hardliner Baker Kalibaf das Rennen um den zweitgrößten Stimmanteil und damit um eine mögliche Stichwahl?

In der Schule neben der Kadschmoschee im reichen Norden Teherans hat sich eine ganz andere Klientel als im ärmlichen Süden der Stadt zum Wählen angestellt. Männer in westlichen Anzügen und Frauen in teuren Schuhen, nur knapp ihr Haar bedeckt, warten, bis sie an der Reihe sind. Selbst der schiitische Geistliche im Turban, der geduldig wartet, gibt sich reformfreundlich. „Wir brauchen eine neue Perspektive für die Jugendlichen. Wir müssen die Revolution an die moderne Zeit anpassen“, fordert Mullah Hussein Scharifi. „Was das bedeutet, das können dir die da vorne viel besser erklären“, sagt er lachend und deutet auf eine Gruppe kichernder junger, schicker Frauen. „Wir wollen vor allem mehr Freiheiten in unserem privaten Leben“, fordert die 18-jährige Schülerin Massume. Anstelle eines schwarzen umgeworfenen Tschadors testet sie mit ihrem beigen Kleid, dem lässig über die Haare geworfenen Kopftuch und ihrem intensiven Make-up am Wahltag offen die Grenzen der islamischen Republik. Wem sie ihre Stimme anvertraut, verrät sie allerdings nicht.

Immer wieder erklären die Jugendlichen, egal ob in der Männer- oder Frauenschlange, dass sie von dem neuen Präsidenten vor allem eines erwarten: einen sicheren Arbeitsplatz. Eine Forderung, die sie auch mit den Jugendlichen in der ärmlichen Südstadt gemeinsam haben. Jedes Jahr drängen eine halbe Million junge Iraner zusätzlich auf den Arbeitsmarkt. Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum laufen um die Wette, und Letzteres wird immer langsamer. Eine Mammutaufgabe, wie immer der nächste Präsident heißen mag. Während die drinnen ihre Hoffnung nicht aufgegeben haben, lehnt Ali draußen vor dem Wahllokal gelangweilt an einem Laternenpfahl: „Ich glaube nicht an die Leute, die es da drin zu wählen gibt, sie sind alle ein Teil des islamischen Systems.“ Der 24-Jährige hat nur einmal seine Stimme abgegeben, für den als Reformer angetretenen heutigen Präsidenten Chatami. Und was ist passiert? Ali bedient sich des typischen iranischen Zeichens für „nichts“. Er schnalzt einmal kurz mit der Zunge.