Demente zurück ins Leben holen

Körperlich fit, aber geistig umnachtet – immer mehr Alte leiden an der krankhaften Vergesslichkeit. Normale Heime sind auf den Ansturm nicht vorbereitet. Einige Betreiber erproben dementengerechte WGs und wollen fördern statt verwahren

VON COSIMA SCHMITT

Die Wende kam mit dem Duft der Waffeln. Zwei Jahre lang hatte die greise Dame jede Nahrung verweigert. Allein eine Magensonde sicherte ihr Leben. Dann aber war Backtag in ihrer Dementen-Wohngemeinschaft – die Seniorin griff zu und kaute genüsslich.

„Riechen, schmecken, mal selbst eine Kartoffel schälen – das holt Demente zurück ins Leben“, sagt Margarete Scherer, Leiterin des St.-Lucia-Pflegeheims in Wesseling. Das Haus erprobt Auswege aus einem drängenden Dilemma: Wie reagiert die Pflegebranche auf das Massenphänomen Demenz?

Noch sind Heime eher auf den Traditionstyp des Greises ausgerichtet: Gebrechlich, siechend, gezeichnet vom körperlichen Verfall. Der Heimalltag 2005 aber ist ein anderer. Durch die Flure irren agile Alte, körperlich fit, aber geistig so umnachtet, dass manche die eigene Tochter nicht erkennen. „Heute sind sieben von zehn Heimbewohnern dement. Das sind doppelt so viele wie noch vor zehn Jahren“, sagt Franz Stoffer von der Caritas Betriebsführungs- und Trägergesellschaft in Köln, die das St. Lucia unterhält. Einige Heime sind überfordert mit Alten, die Rundumaufsicht brauchen – und stellen sie mit Psychopharmaka ruhig.

Unter Experten wächst das Bewusstsein, dass bloßes Verwahren kein Ausweg sein darf. Umso energischer diskutierten sie bis gestern auf dem Deutschen Pflegekongress in Berlin.

Etwa über das St. Lucia, das als Erfolgsmodell gilt. Statt Etagen gibt es Zimmer, die sich um eine Wohnküche gruppieren. Die Alten dürfen aufstehen, wann sie möchten, essen, wann immer es ihnen danach verlangt. Kern der Idee ist der gemeinsame Haushaltsdienst. Eine Demente faltet Servietten. Eine andere räumt die Waschmaschine ein und aus, aus und ein. Eine Dritte schrappt Möhren, eine andere röstet Zwiebeln. Das stimuliert die Sinne und gestaltet den Tag. „In herkömmlichen Heimen sitzen die Bewohner zu viel herum“, sagt Scherer. Der Erfolg des Modells ist messbar, wie die Pillenbilanz im St. Lucia zeigt: Nach einem Jahr hatte die Hälfte der Bewohner sämtliche Psychopharmaka abgesetzt, die andere Hälfte schluckte eine geringere Dosis.

Einen ähnlichen Weg beschreitet Berlin, die Pionierstadt der Dementen-WGs: 150 solcher Projekte gibt es hier, die sich zum Verein „Selbstbestimmtes Wohnen im Alter“ zusammengetan haben. Anders als das St. Lucia sind sie formal kein Heim. Die Dementen leben in Mietwohnungen und werden von einem ambulanten Pflegeteam betreut. Der Regelwust der Heimaufsicht bleibt den Betreibern so erspart. „Wir haben zwar keine Hubbadewanne oder Fäkalspüle, dafür aber eine liebevolle 24-Stunden-Betreuung. Ein bis zwei Pfleger für sechs Leute – das finden Sie in keinem Heim“, sagt Irina Wotschke von der Sozialstation Impuls, die mehrere Berliner WGs betreut. Wotschke müht sich redlich um das Wohlgefühl ihrer Pfleglinge. Sie verhandelt mit einem Hunde-Besucherdienst, engagiert Musiktherapeuten und einen Leierkastenmann.

Noch sind solche Projekte Ausnahmen, vereinzelte Lichtblicke in einer uniformen Heimlandschaft. Doch das Interesse steigt. Im April hat sich eine Bundesarbeitsgemeinschaft „Demenz-WGs“ gegründet. Auch neu geschaffene Altenheime versuchen, stärker auf die Bedürfnisse Dementer einzugehen. Schließlich ist dies ein Markt mit Zukunft. Schon jetzt plagt eine Million Deutsche der mentale Verfall. Bis 2050 könnten es doppelt so viele sein – weil die Deutschen immer älter werden.

Umso wichtiger wird, was Stoffer „kleine Mühen mit großer Wirkung“ nennt. Sein Lieblingsbeispiel: Ein Dementer ist Dortmund-Fan. Die Pfleger aber setzen ihn vor ein Schalke-Spiel und binden ihm einen blau-weißen Schal um. Der Mann randaliert. Fortan gilt er als Fall fürs Beruhigungsmittel. Ein vermeidbares Übel, sagt Stoffer: „Das Vorleben recherchieren – das kostet fast nichts und macht Verwirrte glücklich.“