Kuh bleibt auf dem Eis

AUS BRÜSSEL DANIELA WEINGÄRTNER

Es kommt nicht alle Tage vor, dass ein europäischer Ratspräsident kurz vor Mitternacht die Presse zusammentrommelt, keine Ergebnisse zu präsentieren hat und dennoch mit zärtlichem Beifall und bereitwilligem Lachen aufgenommen wird. Die Presse liebt Jean-Claude Juncker. Als er vergisst, das Mikrofon anzuschalten und mit seinem zerknirschtesten Kleinjungengesicht sagt: „Ich würde es heute Nacht vorziehen, unhörbar zu bleiben“, fliegen ihm die Herzen zu.

Mehrfach blickt ihn Kommissionspräsident José Manuel Barroso bei dieser nächtlichen Versammlung mit säuerlichem Gesichtsausdruck forschend von der Seite an, als versuche er hinter das Geheimnis dieses Erfolgs zu kommen. Barroso knipst sein Lächeln an, wann immer er eine Kamera sieht. Doch die Medienleute misstrauen ihm, zu kalkuliert wirkt die Freundlichkeit, zu phrasenhaft weicht er Fragen aus.

Warum man die nun beschlossene Kampagne, die Europas Bürger mit der Verfassung versöhnen soll, eine Debatte nenne, will ein französischer Journalist von Juncker wissen. Eine Debatte setze doch voraus, dass es zwischen zwei Alternativen etwas zu entscheiden gebe. Und ob die Franzosen am Ende dieser Denkpause noch einmal abstimmen sollten? „Das ist eine gute Frage für meinen Freund Manuel“, sagt Juncker sarkastisch. Barroso lächelt erfreut, denn er redet gern. Natürlich beantwortet er die Fragen nicht, die Antwort fiele ungünstig für die Strippenzieher in Brüssel aus. Aber er nimmt sich Zeit, um zu wiederholen, dass kein Land gefordert habe, das Verfassungsprojekt aufzugeben oder den Text neu zu verhandeln. Europa habe weiterhin viel zu tun, ökonomisch und sozial.

Am nächsten Morgen tröpfeln im Fünfminutentakt die Nachrichten, die zeigen, wie der Verfassungsprozess auseinander bröckelt. Dänemark verschiebt sein Referendum auf unbestimmte Zeit. Portugal und Irland schließen sich an. Der schwedische Ministerpräsident Persson ist heilfroh, die Abstimmung im Parlament vertagen zu können, denn der Koalitionspartner hatte schon vor dem Gipfel gedroht, die Verfassung abzulehnen.

Aus den Finanzverhandlungen sickert durch, dass Großbritannien in der Rabattfrage nur einlenken will, wenn Frankreich einer Reform der Agrarsubventionen zustimmt. „Wir sind der Ansicht, dass der Rabatt voll gerechtfertigt ist, solange die verzerrte Natur des Budgets weiterbesteht“, macht ein Sprecher der britischen Regierung klar. Chirac sagt natürlich nein. Holland droht mit Veto, falls es nicht deutlich billiger als bisher wegkommt. Derzeit ist sein Land pro Kopf gerechnet der größte Nettozahler, das hat zu Hause die Wut auf Europa noch angeheizt, weiß Regierungschef Balkenende. Zu Redaktionsschluss wird noch gefeilscht, das Signal der Einigkeit lässt auf sich warten.

Jean-Claude Juncker sagt in der Nacht zum Freitag, dass er traurig ist. Dass er die Entscheidung der Wähler in Frankreich und den Niederlanden bedauert und für falsch hält. Es liege eine Tragik darin, dass gerade die verschmähte Verfassung einige der Defizite hätte beseitigen können, die den Menschen an Europa so missfallen. Juncker lässt durchblicken, dass er die Tage zählt, bis er seine Freiheit wiederhat. Noch dreizehnmal schlafen, dann übernimmt Großbritannien die Ratspräsidentschaft. Er hat das dann alles hinter sich: Die ewigen Debatten, die stets gleichen Argumente, die Doppelzüngigkeit derer, die Europa beschwören und nur den eigenen Geldsäckel und die Meinungsumfragen zu Hause im Blick haben. Für Juncker ist die Macht kein Selbstzweck. Deshalb lieben ihn die Leute, so einfach ist das.