berliner szenen: In den Augen der anderen
In der M10 ist es voll, die Leute stehen eng an eng in den Gängen, und direkt vor mir wird ein Platz frei. Was für ein Glück! Gegenüber sehe ich durch eine Lücke zwischen den Leuten hindurch eine junge Frau neben dem Fahrkartenautomaten sitzen. Irgendwas an ihrer Art, sich anzuziehen, erinnert mich an mich selbst früher. Ich erspähe viele Buttons auf einer Jutetasche, Docs unter einer weiten Schlaghose und einen selbst gestrickten Riesenschal, der wie eine Boa constrictor um den Hals geschlungen ist. Zwei Männer kommen herein, sie sind etwa Mitte 40. Ich höre die junge Frau den einen Mann mit den weißen Haaren fragen, ob er sich setzen will.
Der Mann sagt: „Nee, alles gut.“ Sein Kumpel lacht hämisch und sagt: „Hehe, dass dir das schon passiert.“ – „Tja“, macht der andere. Der Kumpel meint: „Ist bestimmt dein Naturblond auf dem Kopf.“
Ich denke so bei mir, na ja, was glaubt ihr denn; für eine 18-Jährige sind wir doch alle uralt. Ich erinnere mich noch, wie ich in dem Alter in der Uni einen Kommilitonen kennenlernte, der schon 34 war und ich voller Ehrfurcht dachte, dass der ja schon ein richtiger Erwachsener sei, was mich irgendwie befangen machte.
Als die Männer aussteigen, sehe ich erschreckt, dass die junge Frau weint. Sie sieht nach unten, aber ihr laufen die Tränen über das Gesicht.
„Du“, sage ich. Sie guckt hoch. „Ich fand das nett mit dem Platz. Die fühlten sich nur gekränkt, weil sie sich nicht so alt sehen, wie sie sind.“
Sie sagt: „Ich mach alles falsch.“ – „Nein, du hast alles richtig gemacht. Ich hätte mich gefreut.“
Und dann muss ich daran denken, wie mir neulich ein älterer Herr mit vielen Taschen und dem Blick auf meinem Bauch seinen Platz anbot. Ich guckte an mir herunter und dachte, echt, ab jetzt gibt es aber wirklich keine Lebkuchen mehr.
isobel markus
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