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: Fußball und Chips

Drin oder nicht drin, das ist dank Fifa-Boss Joseph Blatter bald schon nicht mehr die alles entscheidende Frage

Es war eine heldenhafte Tat, wie Jens Lehmann sich im Spiel gegen Tunesien selbst einnetzte. Zuvor hatte er den Ball, der nach einer Ecke auf sein Hoheitsgebiet zuschwebte und Wachposten Hitzlsperger glatt passierte, von der Linie gepritscht. Dem Anschein nach war das Runde nicht im Eckigen. Aber wer konnte das schon mit Sicherheit sagen?

Bisher war der Schiedsrichter für die letzten Dinge des Fußballspiels zuständig, in seltenen Fällen auch das Wettbüro um die Ecke. Demnächst wird, um Unwägbarkeiten vorzubeugen, der Schiri von einem kleinen Gehilfen unterstützt – neben den Linienrichtern, versteht sich. Der dienstbare Geselle befindet sich wie der Referee auf dem Feld, ist aber näher dran am Spielgeschehen, viel näher. Er nistet sich im Ball ein.

Die Wahrheit ist auf’m Platz, endlich wird aus der billigen Floskel eine Erkenntnistheorie des Kicks. Chef-Epistemologe ist Joseph Blatter, der beim Implantieren der Mikroelektronik in den Ball kräftig mitgeholfen hat. „Chip, Chip, Hurra!“, tönt es nun aus der Zentrale der Fifa. Der Vorsprung durch Technik hat endlich auch den Fußball erreicht. Der bechipste Ball soll bald schon zum Einsatz kommen, bei der U17-Weltmeisterschaft in Peru (16. September bis 2. Oktober). Eine WM-Teilnahme des schlauen Balls ist sehr wahrscheinlich.

Forscher des Fraunhofer-Instituts in Erlangen kümmern sich im Auftrag der Cairos AG um das technisierte Spielgerät. Das Torüberwachungssystem wird etwa 250.000 Euro pro Stadion kosten. Mehrere Empfangsantennen sollen installiert werden, vor allem an den Flutlichtmasten der Arenen, zusätzlich zum Kleinstsender im Ball. Signale, heißt es eindrücklich, werden bis zu 2.000 Mal pro Sekunde an einen Zentralrechner geschickt. Der Referee wird per Armbanduhr auf dem Laufenden gehalten, ob der Ball die Linie in vollem Umfang überschritten hat oder eben nicht.

Freunde des Fortschritts mögen jubeln, doch die Geschichtenerzähler packt das kalte Grausen. Drin oder nicht drin, die zentrale Frage des Wembley-„Tores“, geschossen im Jahre 66 des vergangenen Jahrhunderts, hat künftig keine Relevanz mehr. Ein schnöder Blick ans Handgelenk genügt, um den Mythos aus dem Stadion zu jagen. In die Schienbeinschoner der Spieler soll übrigens auch ein Chip eingebaut werden, um die Frage des Abseits schlüssig klären und um läuferische Daten erfassen zu können. Otto Schilys Vision vom gläsernen Bürger – auf dem Fußballfeld wird sie Realität. Kein Wunder, der Mann ist beziehungsweise war ja nicht nur Innenminister, sondern auch höchster Sportbeauftragter des Landes.

Das Abseits hat es Joseph Blatter, dem Fifa-Fürsten, besonders angetan. Als ehemaliger Stürmer will er Klarkeit über derlei Dinge, sagt er. Das Spiel sei konservativ, lässt er verlauten, aber es dürfe sich nicht der Moderne verschließen. Also verbannt er den Pöbel aus den „Fußballtempeln“ und lässt die brave Mittelschicht hinein; also gibt er der Plastifizierung des Rasens seinen Segen; also sorgt er für einen Stau im Nervenleitsystem der Schiedsrichter. Wer die Unparteiischen beim Konföderationen-Pokal die Fahne nach einem Abseits heben sieht, muss einen schweren zentralnervösen Defekt vermuten. Sie reagieren so schnell wie der Beamte auf eine Eingabe.

Erst wenn der Spieler im Abseits den Ball berührt, geht die Fahne hoch. Blatter will das so. Beziehungsweise das International Football Association Board, das für Regeländerungen aller Art zuständig ist. Die Abseits-Neuerung ist revolutionär: Abseits ist, wer abseits steht, nichts anderes besagt die große Abseitsreform. Angeklagt wird nur noch jener Spieler, der aus dem Abseits heraus den Ball bekommt, den Torhüter behindert oder passiv aktiv wird, also wiederum den Ball erhält. Alles klar? Keine Frage, auch hier muss der Chip her. Aber dalli. MARKUS VÖLKER