berliner szenen: Friedlich den Tag meistern
Wieder ein trüber Tag. Auch die Gewohnheit macht den übelgelaunten Winter nicht erträglicher. Um der kalten Einsamkeit in der Wohnung für ein paar Stunden zu entkommen, besuche ich die Amerika-Gedenkbibliothek am Blücherplatz. Dort ist es angenehm warm und auch die Gesellschaft ist angenehm.
Überall sitzen Menschen, die lesen und was noch wichtiger ist, Menschen, die mich lesen lassen. Aber auch die Menschen, die nicht lesen, versuchen die Lesenden nicht zu stören.
Ich blicke von meinem Buch auf in das weite Rund des Raumes und frage mich, was die Menschen, die nicht lesen und sich offenkundig auch nicht für die unzähligen Bücher interessieren, hier eigentlich suchen. Suchen sie ein warmes Plätzchen? Einen Ort der inneren Einkehr? Oder der zwanglosen Gemeinsamkeit? Würden sie das nicht alles auch in einer Kirche finden?
Ich sehe einen älteren, bärtigen Mann, dessen ungepflegte äußere Erscheinung darauf hinzuweisen scheint, dass er bessere Tage im Leben gesehen hat. Vielleicht möchte er sich hier an die besseren Tage erinnern. Er sitzt auf einer Bank über den Heizkörpern am Ende der riesigen Raumes und döst vor sich hin. Immer wieder öffnet er die Augen und schaut sich um, so wie ich das gerade tue. Manchmal ist meine Neugier auf die Menschen in meiner Umgebung größer als das Interesse an dem Buch, das ich zu lesen versuche.
Der Mann hat offenbar keine andere Ambition, als friedlich seinen Tag zu meistern. Die Tage können recht lang sein, wenn keine Aufgabe die Stunden ausfüllt. Doch wirkt er ziemlich zufrieden, die Stunden auf seine Weise herum bringen zu dürfen. Sicher weiß der Mann ebenso gut wie ich um den Sinn seiner Tage, sonst würde er mir nicht zulächeln, als sich unsere Blicke treffen. Henning Brüns
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