SPD ruft bildungspolitische Wende aus

Vier Jahre nach dem Pisa-Debakel der deutschen Schulen und drei Monate vor ihrer Abwahl formuliert die SPD ein radikales Umsteuern: Der Kindergarten soll gratis sein. Die Schule soll weg von der Auslese. Deutschland braucht eine neue Lernkultur

AUS BERLIN CHRISTIAN FÜLLER

Es gibt Momente im Leben, da kann man nur noch Falsches tun. Am Samstag trafen sich Sozialdemokraten aus ganz Deutschland im Berliner Willy-Brandt-Haus. MinisterInnen, Experten und SPD-Chef Franz Müntefering wollten sich über „Wegmarken einer neuen Bildungspolitik“ austauschen. Plötzlich stand einer der Ihren auf: „Ich bin wütend“, rief der Mann in den Saal, „was haben wir getan für die Bildung der Zuwanderer?“

Ertekin Özan hieß der Zwischenrufer, kein Randalierer, sondern ein besonnener Mann. Özan ist Vorsitzender der türkischen Elternvereine in Deutschland. Und sieht das Versagen der Bildungspolitik. „Es gibt eine Million Schulabgänger nichtdeutscher Herkunft jährlich“, rechnete Özan verbittert vor, „60 Prozent bekommen einen einfachen oder gar keinen Hauptschulabschluss. Nur 9 Prozent erreichen die Hochschulreife.“ Das bedeute, fuhr er fort, „dass 600.000 junge Menschen in unserem Land keine Chance haben, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Was haben wir Sozialdemokraten dagegen gemacht?“

Das ist die Krux der SPD. Und es ist nicht so, dass ihr das nicht bewusst wäre. Im Gegenteil, Bildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) legte am Samstag erneut eine eindrucksvolle Liste eines „radikalen Umsteuerns“ in der Bildungspolitik vor. Deutschland müsse weg von einer stark auslesenden hin zu einer Schule der individuellen Förderung. Es müsse eine neue Lernkultur her mit einem starken Gewicht auf dem Start ins Lernen. „Unser langfristiges Ziel muss es sein“, sagte Bulmahn, „den Kindergartenbesuch gebührenfrei zu stellen.“ Zusammengenommen sind diese Forderungen eine neue Bildungspolitik. Nur formulieren die Sozialdemokraten diese nicht am Anfang, sondern am Ende ihrer Ära.

Im Jahr 2001, als Pisa den unsozialen, leistungsschwächenden, regional spreizenden Charakter der deutschen Schule aufdeckte, wagte sich kein SPD-Minister aus der Deckung. Im vergangenen Jahr ließ die rheinland-pfälzische Schulministerin Doris Ahnen (SPD) ihre KMK-Präsidentschaft ohne Impulse verstreichen. Erst jetzt, kurz vor Toresschluss, dreht der Wind. In Berlin trat Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Ute Erdsiek-Rave (SPD) konzeptionell neben Bulmahn.

Erdsiek-Rave schlägt andere Töne an. „Ich kann es nicht akzeptieren, dass Bildungserfolg im demokratischen Deutschland erheblich an Herkunft und Einkommen der Eltern gekoppelt ist.“ Die SPD, einst angetreten, die Bildungseinrichtungen zu öffnen, müsse eingestehen: „Die Türen sind nur halb geöffnet.“ Die Kielerin Bildungsministerin forderte, sofort auf die demografische Entwicklung zu reagieren. Für Erdsiek-Rave heißt das praktisch: In Schleswig-Holstein schrittweise eine Gemeinschaftsschule einführen, in der bis zur 10. Klasse gemeinsam gelernt wird.

Selbstzufriedenheit hatte auf der Bildungstagung keine Chance. Als Redner der großen Politik und anderen gesellschaftlichen Gruppen die Schuld zuweisen wollten, schnappte sich Jutta Allmendinger das Mikrofon. „Sind Sie sicher, dass sie das Bestmögliche in der Bildung getan haben?“, fragte die Direktorin des Forschungsinstituts der Bundesagentur für Arbeit. „Wir leben doch schon lange in der Bildungsarmut. Nicht die Wissenschaft braucht mehr Mut dagegen, sondern Sie.“