Auf der Suche nach den Metern

Vor dem letzten Springen der Vierschanzentournee rätselt man im deutschen Team über die Ursachen der bislang schwachen Auftritte. Insbesondere bei der Flugtechnik scheint die Konkurrenz überlegen zu sein

Nach kurzen Flügen am Tiefpunkt: Karl Geiger übersteht in Innsbruck nicht einmal die Qualifikation Foto: Oryk Haist/imago

Aus BischofshofenLars Becker

Vor Beginn dieser 71. Vierschanzentournee hat Bundestrainer Stefan Horngacher fast verzweifelt versucht, die deutschen Skispringer stark zu reden. Obwohl seine Athleten mit nur einem Podestplatz so schwach wie selten zuvor in eine Weltcup-Saison gestartet waren, sprach der Österreicher davon, dass er „mit der besten Mannschaft“ seiner Amtszeit zum ersten Saisonhöhepunkt angereist sei.

Diese Formulierung ist gewaltig nach hinten losgegangen. Statt um den ersten Gesamtsieg seit Sven Hannawalds Triumph vor 21 Jahren zu kämpfen, haben die deutschen Skispringer einen der schwächsten Skisprung-Grand-Slams aller Zeiten hingelegt. Nach einem ordentlichen Beginn in Oberstdorf mit den Plätzen vier für Karl Geiger und sechs für Andreas Wellinger ging es steil bergab. Tiefpunkt war das Bergiselspringen in Innsbruck, als Geiger sogar den Sprung unter die besten 50 des Wettkampfes verpasste. Der Oberstdorfer hat eingeräumt, dass er in den vergangenen vier Jahren bei der Tournee noch nie „so weit weg“ von der Weltspitze gewesen ist.

Die schlechten Resultate haben Chefcoach Stefan Horn-gacher in die schwerste Krise gestürzt. Seit 2019 betreut er das Team. Horst Hüttel als Weltcup-Sportdirektor im Deutschen Skiverband (DSV) sprach von einer „bitteren Enttäuschung“, will aber „nicht die Nerven verlieren“ und keine Trainer-Diskussion aufkommen lassen.

Allerdings stellte Hüttel mit Blick auf die Nordische Ski-Weltmeisterschaft in Planica (23. Februar bis 5. März) auch klar, dass den „Trainern nun etwas einfallen“ müsse. Schließlich haben die deutschen Skisprung-Männer bei der letzten WM in Oberstdorf unter Horngacher vier Medaillen (davon zwei Gold) gewonnen.

Auch der Chefcoach, der die Situation bei Tournee-Halbzeit noch schöngeredet hatte („sehr zufrieden“), hat den Ernst der Lage inzwischen begriffen. Man müsse die „fehlenden Meter suchen und finden“ und an „Stellschrauben drehen“. Was er genau meinte, wollte er nicht verraten. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob Horngacher tatsächlich „nicht ratlos“ ist.

Laut Hüttel sind die deutschen Springer körperlich „mit den besten Werten überhaupt“ zur Tournee angereist. Aber Skispringen ist viel mehr als Fitness und Power beim Absprung. Flugtechnisch sind Geiger und Co momentan Welten von den drei Topfliegern Halvor Egner Granerud (Norwegen), Dawid Kubacki (Polen) und Anze Lanisek (Slowenien) entfernt. Sie springen sehr unterschiedlich, aber alle drei eint, dass sie nach dem Absprung sehr viel Geschwindigkeit in den Flug mitnehmen und den Deutschen damit unten wegfliegen.

Horngacher hat außerdem analysiert, dass sich durch die Regel-Anpassungen beim Material „ein, zwei Dinge verändert haben“. Vor allem beim Sprunganzug – als Fläche entscheidend für den Auftrieb im Flug – scheinen die Deutschen laut Experten wie dem letzten deutschen Tournee-Gesamtsieger Sven Hannawald Nachteile zu haben. Und dann ist da noch das Kopfproblem der deutschen Skispringer, das ausgerechnet ein Newcomer aus dem eigenen Team deutlich macht.

Philipp Raimund ist die große positive Überraschung in einem schwachen Team. Er kam direkt aus dem Continentalcup – der zweiten Liga des Skispringens – zur Tournee und überzeugte mit den Plätzen 13, 14 und 15. „Philipp macht das super, er springt unbekümmert drauflos. Er macht sich einfach weniger Gedanken als die in unserem Team, die als Favoriten angetreten sind“, analysiert Horngacher. Raimund ist auch vom Typ her anders als seine Mannschaftskameraden und der Trainer: Der extrovertierte 22-Jährige geht offen auf die Fans zu und „scheißt sich einfach nix“ (Karl Geiger).

Eine frische Einstellung, die auch Andreas Wellinger in seiner Jugendzeit zu spektakulären Erfolgen wie zwei Olympiasiegen geführt hat. Nach drei schwierigen Jahren mit vielen Verletzungen hat der inzwischen 27-Jährige bei der Tournee zumindest den Anschluss an die erweiterte Weltspitze wieder gefunden und ist die zweite positive Überraschung im deutschen Team. Zufrieden ist er deshalb lange noch nicht: „Das ist nicht schlecht, aber auch nicht wirklich gut. Uns fehlen Meter und wir müssen eine Lösung finden, wie wir mehr Geschwindigkeit in den Flug mitnehmen können.“

Erwartet wird von Horn-gacher und seinen Springern nach der bitteren Tournee-Pleite vor allem eins, wie es Sven Hannawald treffend formuliert hat: „Das Motto muss heißen: Weniger reden und mehr machen.“