Blutgrätscher und Zauberkünstler

Jede kickende Nation hat ihren eigenen Fußball-Mythos. Der aktuelle Wahrheit-Essay

Brasilien scheidet aus, und der Mythos von den schlampigen Genies ist in der Welt

Fußball ist ein Spiel und spielen heißt „experimentieren mit dem Zufall“ (Novalis). Deshalb können DSF-Moderatoren so viel Statistik herunterbeten, wie sie wollen, im Reich des Fußballs regiert immer noch der Mythos. Er verwandelt Geschichte in Legenden. Und das Schönste ist: Man kann diese Transformation vom Sofa aus beobachten.

Wie im Sommer 1986. Es läuft das WM-Viertelfinale Argentinien gegen England. Die Schlüsselszene sieht Diego Armando Maradona rechts außen auf Höhe der Mittellinie. Der Argentinier bekommt den Ball und setzt zu einem Sololauf an, bei dem sechs Engländer auf der Strecke bleiben. Am Ende liegt der Ball im Tor. Das ist nicht nur das entscheidende 2:1, es ist ein „Realität gewordenes Beispiel ästhetischer Vollendung“ (Dietrich zur Nedden). Bis dato galten die Blau-Weißen trotz eines WM-Titels als rustikale Heißsporne, die – sobald es nicht optimal lief – auf ihre Gegner losgingen wie wild gewordene Pampas-Stiere. So war es 1958, als Walter, Schäfer und Eckel vom Platz humpelten, und so war es 1966. Die Opfer diesmal: Haller, Brülls und Weber.

Das Jahrhunderttor Maradonas katapultierte die Argentinier auf einen Schlag in den Olymp der Fußball-Rastellis. Der Mythos lebt und blendet – unter anderen den FC Bayern München. Unbesehen überwies Uli Hoeneß Millionen nach Buenos Aires für einen Kicker namens Demichelis, den ihm Beobachter als „Beckenbauer Südamerikas“ angedient hatten. In München entpuppte sich der Mann dann eher als kompromissloser Blutgrätscher Marke Jürgen Kohler.

Das gilt auch für Hannovers Brasilianer Vinicius. Er ist obendrein etwas behäbig. Trotzdem haben ihn alle 96-Fans lieb, weil noch den lahmsten Stopper vom Zuckerhut der Mythos des genialischen Instinktfußballers umweht. Santos war so einer, Pelé, Didi und selbstverständlich das Krummbein Garrincha. Ihre Kunst speiste sich aus Technik, Eleganz und vor allem aber aus der Verweigerung, die Spielfreude dem schnöden Ergebnisfußball zu opfern. Die legendären Weltmeister von 1958 hatten das auch nicht nötig. Darum verkörpert den wahren brasilianischen Mythos eigentlich jenes Team aus Zauberkünstlern, das bei der WM 1986 antrat, die Fußballwelt aus den Angeln zu heben.

Die Seleção spielt zu der Zeit den beschwingtesten Fußball, den dieser Planet je gesehen hat. Im Viertelfinale trifft sie auf das fast ähnlich brillante Frankreich. Nach 120 Minuten steht es 1:1. Es folgt das Elfmeterdrama. Nachdem Zico, der weiße Pelé, vergeben hat, läuft als letzter Schütze Sócrates an. Nein, er läuft eben nicht an. Sócrates versucht den Ball aus dem Stand ins linke Toreck zu schlenzen. Ein Kunstschuss. Er zischt über die Latte ins Nichts. Brasilien scheidet aus dem WM-Turnier aus, und der Mythos von den schlampigen Genies ist in der Welt. Und er wird auch nicht dadurch getrübt, dass sie 1994 ein System bevorzugen (und den World-Cup holen), das preußischer ist, als es Herberger je zu exekutieren gewagt hätte.

Auch anderswo pflegt man die Saudade, die sehnsuchtsvolle Trauer des Verlierens. Zum Beispiel in Afrika oder auf der iberischen Halbinsel. „Sag, gelber Mond, warum wird Portugal niemals Europameister“, singt Meister-Bariton Thomas Quasthoff seit Jahren, und er hat Recht. Mit Figo und Co. ist es stets dasselbe: Genial gespielt, aber zum Titel hat es wieder nicht gereicht.

Auch der derzeitige Confederation-Cup-Teilnehmer Mexiko lernt 1986, was es heißt, gegen einen Mythos anzurennen. Im Aztekenstadion staunen 100.000 Sombreros, wie die Heim-Elf den amtierenden Vizeweltmeister Deutschland schwindelig dribbelt. Vergeblich. Das miese Gekicke der „German Tanks“ ist kaum auszuhalten, doch die Deckungsreihen stehen wie immer fest geschlossen und Schumacher entschärft zwei Strafstöße. Ein Dichter reimt später: „Erinnert euch an Mexiko, / die Reihe Förster, Briegel, Eder, / grausam grätschte sie ins Endspiel, / nachher hasste Deutschland jeder.“ Den englischen Goalgetter Lineker trieb das fluchwürdige Glück der Teutonen zu der legendären Einsicht: „Fußball, das ist, wenn 22 Mann hinter dem Ball her rennen, und am Ende gewinnen immer die Deutschen.“

Über den Ruf braucht sich der DFB nicht zu beklagen. So ist das eben, wenn man jahrzehntelang Männer aufstellt, die Eisenfuß, Terrier, Kopfballungeheuer oder Walz von der Pfalz heißen. Noch im Jahr 2004 bestand folgerichtig der deutsche Kicker-Mythos aus Schweiß, Disziplin und Kampf, bis Blut kommt. Kurz, er sah aus wie Uwe Seeler. Zum Lohn steht sein nur grob behauener Torso auf St. Pauli im Wachsfigurenkabinett neben Erik Ode.

Maradona hat es da weiter gebracht. Eine Sekte verehrt das Pummelchen als gottähnliches Wesen. Man sieht, jeder Mythos hat immer auch einen Zug ins Religiöse. Doch während Jesus am Anfang des Johannes-Evangeliums aus der Ewigkeit in die historische Zeit purzelt, ist es im Fußball grad umgekehrt. Cruyff, Eusebio oder di Stefano fallen aus der historischen Zeit in die Ewigkeit und mit ihnen ganze Fußballkulturen. Bis jemand einen neuen Mythos kreiert. In diesem Sinne: Schweini und Poldi, viel Glück!

MICHAEL QUASTHOFF