Glühwurm aus dem Nichts

Per Mertesacker von Hannover 96 überzeugt beim Confederations Cup als Turm in einer deutschen Abwehr, die bisher mehr Schatten als Licht aufwies und sich heute gegen Argentinien bewähren muss

AUS NÜRNBERG MARKUS VÖLKER

Die Deutschen sind im fränkischen Land abgestiegen, in einem Hotel mit leicht esoterischem Touch. In der Lobby sind ein paar Sinnsprüche an der Wand angebracht, die auch von Jürgen Klinsmann stammen könnten. Könnte gut sein, dass er sie dem Personal vor der Ankunft diktiert hat. „Je mehr Licht wir unseren Schattenseiten geben, desto heller werden sie“, hat irgendwer mit rotem Filzstift auf gelbes Papier geschrieben. Wer weiß, vielleicht hat Per Mertesacker sich die Aphorismen im Hotel Herzogspark in Herzogenaurach auch schon mal angetan, denn er, der zentrale Defensive aus der deutschen Viererkette, ist ja so etwas wie der Chefbeleuchter auf Klinsmanns Bühne.

Die Lobeshymnen auf das Glühwürmchen von Hannover 96 könnten nicht einstimmiger sein. Die Süddeutsche Zeitung sieht den 20-Jährigen „Furcht erregend souverän“ in der Abwehr agieren. Die Frankfurter Allgemeine schreibt: „Hohe Bälle schluckt er so plötzlich wie der Leguan das nichts ahnende Insekt.“ Seinen größten Fürsprecher hat Mertesacker freilich in Klinsmann selbst. Er lobt den Burschen über den grünen Klee, was dem schlaksigen, 1,98 Meter großen Fußballer, der wohl auch einen guten Basketballer abgegeben hätte, nicht ganz geheuer ist.

Mertesacker befindet sich in einem Entwicklungsbeschleuniger, in einer Zeitmaschine, die Dinge mit ihm anstellt, die ihm bisher fremd waren. „Das ist ein unglaublicher Prozess“, sagt er, „das geht ratz, fatz.“ Nun ist er, der mit 4 Jahren erste Ballübungen unternahm und beim TSV Pattensen fortführte, zum Hoffnungsträger mutiert, eine Rolle, an der man leicht zerbrechen kann. Es geht alles ein bisschen schnell, aber beeindrucken lässt er sich davon nicht: „Klinsmann sagt nicht, ich wäre der Abwehrchef, er sagt nur, dass meine Entwicklung bemerkenswert ist.“

Klinsmann hat sich diesen Mertesacker ausgeguckt und ihn für gut genug befunden, das Höchste von ihm zu erwarten. Offenbar zieht Mertesacker Verantwortung magnetisch an. Aber warum gerade er, einer, der sich nicht aufdrängt, der sagt: „Ich will eigentlich nur aufzeigen, dass ich eine Alternative bin, ich brauche keine Führungsrolle, es geht mir nur darum, die Abwehr zu stabilisieren“? Er stabilisiert schon recht ordentlich, jedenfalls besser als seine Kompagnons in der Kette, Robert Huth oder Thomas Hitzlsperger. Heute (20.45 Uhr, ARD) muss sich die junge deutsche Abwehr gegen Argentinien im letzten Vorrundenspiel des Confederations Cup beweisen.

„Es ging in letzter Zeit alles so schnell“, sagt Mertesacker, „dass ich gar nicht an meinen Defiziten arbeiten konnte.“ Das Tragen von Verantwortung an zentraler Stelle kostet Kraft, mentale und physische. „Ich freue mich nun auf ein Jahr, in dem ich mich um meinen Körper kümmern kann.“ Viel mehr Ziele formuliert er nicht. Natürlich erwähnt er den Wunsch, eine gute Saison mit seinem Klub zu spielen, natürlich hat er seine inneren Koordinaten auf die WM im eigenen Land ausgerichtet, aber was danach kommt, das weiß Mertesacker nicht, zu sehr ist er in gedanklicher Geiselhaft der Gegenwart. „Mit der Zukunft hapert es noch ein bisschen“, sagt er.

Neun Partien hat er als Nationalspieler hinter sich, nur 31 in der Bundesliga. Vor kurzem noch verkauften Berichterstatter Mertesacker als „Schüler“ oder „Zivildienst Leistenden“. Für Mertesacker scheint diese Zeit weit entfernt, als er, der Schüler, freitags eine sechsstündige Matheprüfung zu absolvieren hatte und tags drauf ein wichtiges Spiel gegen den Abstieg. „Vor zehn Monaten war ich praktisch nichts“, sagt er und erzählt von seinem Zivildienst in einem Heim für geistig Behinderte. Die Episode leitet er mit den Worten ein: „Ich wurde also in eine geschlossene Anstalt eingeliefert.“

Mertesacker taxiert seine Gesprächspartner, eine Runde von vier Journalisten, und Mertesackers Blick erinnert ein wenig an das kokette Werben von Lady Di; man verwirft diesen Vergleich jedoch schnell wieder, weil es doch nicht sein kann, dass jemand, der ein Bollwerk errichtet, gemeinsam mit dem ungelenken Abwehrschrat Huth seine Arbeit erledigt und dorthin geht, wo es angeblich wehtut, eine Sensibilität und Freundlichkeit an den Tag legt, die in dieser Branche nun wirklich nicht verbreitet ist. „Ich bin als Junger gekommen, jetzt bin ich ein Aufstrebender“, sagt der nette Recke. Bald wird er ein Etablierter sein.