Schwarzer Barock

Neue Lesart eines alten Stücks: Mit „The Loss of Small Detail“ eröffnete die William Forsythe Company ihren Spiel- und Produktionsort Dresden

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

In Hellerau wird noch gebaut. So wanderte die William Forsythe Company, die dort, im alten Festspielhaus, am Rande der Stadt Dresden ihren zweiten Spiel- und Produktionsort neben Frankfurt am Main erhalten wird, wie es ein Kooperationsvertrag mit den beiden Städten vorsieht, erst einmal ins Zentrum der barocken Stadtlandschaft. Für vier Tage brachte Forsythe „The Loss of Small Detail“, einen Klassiker seiner choreografischen Dekonstruktions-Übungen von 1987, ins Schauspielhaus und zeigt im Anschluss eine Installation aus weißen Luftballons im Hygiene-Museum (23. bis 26. Juni).

Aber als gälte es zu bestätigen, dass beides mehr ist als nur ein Gastspiel, nämlich der Anfang in einer anderen Stadt, hat Forsythe der Wiederaufführung ein 17 Minuten langes neues Stück vorangestellt: Dieser Prolog verändert nicht nur den Kontext des alten Stückes, sondern wirkt zugleich wie eine Vorbereitung auf die Stadt der Schnörkel, der barocken Erinnerung und der Kultivierung der Sinnenlust. Die ganze Compagnie steht zu Beginn auf der Bühne, in zarten, durchsichtigen grauen und schwarzen Stoffen, dunkle Spiegel der später helleren Kostüme. Nach und nach gerät jeder, wie von einem Strudel ergriffen, in Bewegung, verschwindet und kehrt noch immer von dem gleichen Strom getragen wieder auf die Bühne zurück. Sie umschlingen und verschlingen sich, biegen sich tief in die Drehungen und immer noch einen Kreisel mehr, der die Schulter, das Knie, die Hüfte, den ganzen Körper nach sich zieht, der bald nur noch ein Knäuel von spiralisierenden Energiewirbeln zu sein scheint.

Dieser Prolog glich nicht nur einer tänzerischen Demonstration, einem kurzen Schautanzen, um so zu beweisen, bis zu welcher Virtuosität Forsythe seine Tänzer führen kann. Er lieferte vielmehr auch einem Beweis des Vertrauens in die Kraft des Tanzes als eine sich selbst genügende Kompositionsform, die dem Stück „The Loss of Small Detail“ wie ein Positiv einem Negativ vorangestellt war. Denn in „The Loss of Small Detail“ tendiert alles zur Auflösung: Schnee fällt vom Bühnenhimmel und verrieselt das Bild bis zur Unkenntlichkeit eines flimmernden Bildschirms; Filmbilder werden in Sprache und Schrift beschrieben, aber je detailreicher die Beschreibung, desto weniger sind sie vorstellbar. Andere Bilder werden in einer Art traumdeuterischen Frage-und-Antwort-Spiel gedeutet, doch je mehr Informationen man bekommt, desto mehr verliert sich der Sinn.

Die Formen der Tanzenden erinnern derweil an den neuen Prolog, nur sind sie fragiler und zerbrechlicher. Statt die Tänzer wie ein weicher Fluss davonzutragen, durchzucken die Bewegungen sie wie Blitze. Die langen Linien und endlosen Spiralen zerbrechen und zerbröseln spröde. Fast immer ist der Tanz neben den anderen Szenen gegenwärtig wie in einer davon unberührten Parallelwelt, und doch scheint er vom gleichen Sog ins Nichts infiziert. Ob man sich ihm überlässt oder sich auf die sprachlichen Szenen konzentriert, ist die Entscheidung des Zuschauers – beides zugleich geht schwer. Aber wie die Entscheidung auch ausfällt, das Spiel treibt auf Auflösung zu.

Dabei entstehen immer wieder Bilder wie aus einem genetischen Versuchslabor oder einer Vorlesung über Anatomie und Evolution. Der „primitive Mensch“, der „zeitgenössische Künstler“ und die „postmoderne Gestalt“ sind dabei drei Figuren, die benannt werden und eine Rolle spielen sollen. Über ihren Zusammenhang geraten die Mitspielenden aber so in Verwirrung, dass der Versuch einer evolutionären Ordnung torpediert wird. Damit bekommt „The Loss of Small Detail“ ein unerwartetes komisches Element, das die spannungsvolle Stimmung durchstößt. Das Zerbrechen der Kette, der Verlust eines Details, der dem Ganzen Sinn und Richtung gibt, wird nicht nur zu einer ästhetischen, sondern auch geschichtsphilosophischen Figur.

Es war noch hell, als der Abend nach 80 Minuten zu Ende war. Im Schlosshof, zwanzig Schritte weiter, wurden die Stühle nach einem Jazz-Medley weggeräumt. Touristen fotografierten noch einmal die Silhouette der Stadt von der Brücke, und in den Biergärten an der Elbe wummerten die Beats. Dass die Zeit eben mal kurz rückwärts gelaufen war, fiel draußen nicht weiter auf.