JENNI ZYLKA über PEST & CHOLERA
: Von Huren und Heiligen

Sex, Drogen und Gewalt? Kein Problem, junge Mütter reagieren darauf sehr flexibel

Bei mir um die Ecke, auf den alten Holzbänken am Kanal, sitzen werktags immer Dealer, die Pornohefte angucken, während sie auf ihre Kunden warten. Ich finde das zwar stets irritierend, wenn sie einen beim Vorbeispazieren lautstark abchecken, aber irgendwie ist es konsequent. Ich habe schon überlegt, ob ich mich mit Waffenkaufabsichten an sie wenden könnte oder um einen ungeliebten Vermieter verprügeln zu lassen.

Es ist doch beruhigend, wenn Sex/Drogen/Gewalt so schön an einem Ort kulminieren und man also immer weiß, wo man hingehen muss, um das eine oder das andere ausüben zu können. Und es ist auch persönlicher als das langweilige Internetbestellen, das die jungen Menschen heutzutage dem direkten Drogenkauf vorziehen, wenn sie mal wieder mit saugefährlichen und extrem nachhaltigen Biodrogen ihre Jugend kaputtexperimentieren wollen.

Aber es sind ja nicht alle jungen Menschen so. Manche gehen statt zum Dealer lieber zum Kirchentag, sogar bei Regen. Sie stehen dann gemeinsam mit Freunden im Geiste unter nur einem Schirm und gucken zu, wie die Pastoren, Kardinäle und Chöre auf der Tribüne Show machen. Vor einiger Zeit habe ich mal zufällig eine Live-Kirchentagsübertragung auf Phoenix mitgeschnitten, die wir dann staunend im Bekanntenkreis herumgereicht haben: Nicht nur die durchsichtigen Plastikregenschirme der Priester haben uns fasziniert. Das Beachtlichste war die Simultangebärdensprachdolmetscherin in der Ecke rechts unten, die auch die Liedtexte des christlichen Chors kongenial übersetzte. „In allen Weisen / will ich dich preisen / auf allen Wegen / bringst du uns Segen / Ave Maria“ oder so ähnlich, mit feierlichen, großen Gesten und seligem Gesichtsausdruck, so kam es uns vor.

Ja, man kann wirklich nicht behaupten, dass den jungen Menschen nichts mehr heilig ist. Marien-, also Mutterverehrung ist sogar beim HipHop Trend: Sido, der Berliner Aggro-Rapper, der in seinem stolpernden Flow normalerweise schlichtweg dummes Zeug rappt, hat für „Mama ist stolz“ seine Mutti gesampelt. Die hat nämlich „immer hinter mir gestanden“, obwohl „ich geh klauen, scheiß auf Frauen und nehm Drogen“ – aber, ha, das ist der Unterschied, Sido scheißt vielleicht auf Schlampen, Luder und Bräute, also alle anderen Frauen, aber doch nicht auf Mama! Das ist schließlich eine Heilige.

Eminem singt in „Mockingbird“ seiner kleinen Tochter ein Schlaflied und erklärt, wie das früher war mit Mama, die zwar momentan nicht da ist (weil sie im Knast sitzt, wegen Drogen), aber bald wiederkommt, und dann wird alles gut, und zwar mit Papa, der sich nur deswegen so wenig um seine Familie gekümmert und stattdessen so viel beleidigendes Zeug gerappt hat, weil er das Essen auf den Tisch stellen musste. Wie das eben in der überschaubaren Rapperwelt so ist mit den Frauen: Sind sie fremd und sexy, dann sind sie Huren, aber sind sie die eigene Mutter oder haben einem Kinder geschenkt, dann sind sie Heilige.

Nichts Neues, aber immer wieder befremdlich. Im Kleinen kann man diese phänomenale Zweiteilung der Frauenverachtung täglich erleben: Meine heiße, allein erziehende Freundin holt jeden Mittag ihr kleines Goldkind aus der Kita ab. Auf dem Hinweg sammelt sie regelmäßig zwischen zwei und sechs Anmachen von herumlungernden Männergruppen ein, auf dem Rückweg, jetzt mit Kinderwagen, sind die Männer stumm wie Fische, um die Heilige nicht zu beschmutzen.

Meine Freundin hat sich schon oft überlegt, ein mehrteiliges Experiment zu wagen:

1. Würde ein T-Shirt mit „Ich bin Mutter“ für den Hinweg den gleichen Effekt wie ein Kinderwagen haben?

2. Würde ein T-Shirt mit „Ich bin allein erziehend“ für den Rückweg (mit Kinderwagen) die Kinderfreundlichen unter den Anmachern ermutigen?

3. Hat der T-Shirt-Sitz (weit oder eng) Einfluss auf das Verhalten der Männer?

Wir vergleichen jedenfalls vorsorglich schon mal verschiedene T-Shirt-Druck-Preise.

Fragen zur Erziehung? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahn ROTKÄPPCHEN