Urlauben wir unerlaubt?

Wer krank war, soll kürzer urlauben. Denn auch Ferien müssen erst „erwirtschaftet“ werden, meint Otto Kentzler, Präsident der Handwerker. Hat der Mann Recht? Ist Urlaub ein unvernünftiger Luxus?

pro

Jetzt mal ehrlich: Bei dem Wetter hat niemand wirklich Lust zu arbeiten. Freuen Sie sich also auf Ihren nahenden Sommerurlaub – sofern Sie sich trauen, Ihren Job einer Urlaubsvertretung zu überlassen. Theoretisch liegen deutsche Arbeitnehmer freizeittechnisch mit durchschnittlich 27 bezahlten Urlaubstagen immer noch ganz weit vorne. Nur: Die will niemand mehr nehmen.

Ganz weit vorne liegen deutsche Arbeitnehmer seit kurzem nämlich auch beim Urlaubsverzicht. 75 Millionen Urlaubstage haben sie im letzten Jahr verfallen lassen. Das hat das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung ausgerechnet. Die Leute haben Angst: Nach dem Urlaub könnte der Job weg sein – oder gleich die ganze Firma. Jahrzehntelang haben die Gewerkschaften für 24 gesetzliche verankerte Urlaubstage gekämpft. Jetzt hat sich’s ausgeurlaubt. Auch wenn man eigentlich gar nicht auf diese 24 Urlaubstage verzichten darf – das steht so im Bundesurlaubsgesetz.

Wenn schon Angestellte glauben, sie könnten sich ihren Jahresurlaub nicht mehr leisten, zeigt das, dass sechs Wochen Urlaub im Jahr nur noch wenig zeitgemäß ist. Wer als Freiberufler unmittelbar wirtschaftlichen Auftragsschwankungen ausgesetzt ist, kann von knapp 30 bezahlten Urlaubstagen im Jahr sowieso nur träumen. Der Freiberufler will nach Italien? Der Freiberufler muss sich das erst mal monatelang verdienen. Zwei Wochen Ferien sind drin, mehr gibt der Markt nicht her.

Sechs Wochen jährlicher Pflichturlaub sind ein Relikt aus einer Zeit, in der man lebenslänglich in einer Firma gearbeitet hat und im Sommer mit der Familie auf den Campingplatz am Bodensee gefahren ist. Das konnte man dann auch ein Jahr vorher planen und entsprechend Urlaub beantragen. Wer weiß heute schon, was er nächsten Sommer vorhat? In einen modernen Lebensentwurf passen festgelegte Urlaubszeiten genauso wenig wie der Campingurlaub am Bodensee.

Urlaub ist Luxus. Mehr als er je war. Und Urlaub ist unvernünftig. Das war er schon immer. Egal nämlich ob man mit Freundin, Familie oder alten Schulkumpels in den Urlaub fährt: spätestens nach zehn Tagen gehen sich alle auf die Nerven. PHILIPP DUDEK

contra

Ob wir nun die Gipfel des Hindukusch besteigen, das Rote Meer durchtauchen, den „Ballermann“ leer saufen oder einfach mit einem guten Buch in der heimischen Hängematte baumeln – Erholung ist ein weites Feld, das wir auf vielerlei Weise bestellen können, jeder nach seiner Fasson. Was freilich nichts daran ändert, dass Erholung als schonende Ruhe nach einer Phase der Anstrengung definiert wird, die der Regeneration der Kräfte dient – und, wie Religions- oder Reisefreiheit, zu den universellen Menschenrechten zählt. Es ist das Verdienst der Gewerkschaften, dass unser Recht auf Rekreation von der Gunst und Güte des Arbeitgebers entkoppelt ist. Auch war es bisher im eigenen Interesse des Arbeitgebers, seinem „Humankapital“ eine Schonzeit zu gönnen, statt es möglichst effektiv zu verheizen – obschon in anderen Kulturen, etwa in Japan, der Tod durch Überarbeitung so üblich ist, dass es dafür sogar ein eigenes Wort gibt: „Karohi“.

Der ägyptische Pharao Ramses II. war übrigens der erste Arbeitgeber, dem diese Logik einleuchtete, weil er auf der Baustelle seines monumentalen Mausoleums durch den ersten Streik der Weltgeschichte darauf aufmerksam gemacht wurde.

Seitdem hat sich die Erfindung der Freizeit ähnlich gut bewährt wie die Einführung der bodenschonenden Dreifelderwirtschaft. Der Kapitalismus war dem Kommunismus in sozialer und menschlicher Hinsicht nur dort überlegen, wo er Kreide gefressen hatte: Wer sich mindestens einmal im Jahr auf einer Mittelmeerinsel seiner Wahl für wenig Geld die Sonne auf den Bauch scheinen lassen kann, dem ist eben schwer einzureden, er sei Opfer ausbeuterischer Kapitalinteressen. Zumal ihm ja auch allfeierabendlich alle möglichen Zerstreuungen der Freizeitindustrie zu Gebote stehen, vom Zirkus des Privatfernsehens bis zur Pflege eines Hobbys, was wiederum in „Freizeitstress“ ausarten kann.

Zerstreuung aber ist nur die verdeckte Fortsetzung der Arbeit mit anderen Mitteln – und damit das Gegenteil von Urlaub, dessen Sinn ja eben in einem Moratorium aller Alltagszwänge liegt. Und in der Chance, mich so weit von der Entfremdung zu entfremden, dass ich zu mir komme – und gleich nach der Heimkehr kündige. ARNO FRANK