Geld und Größe: Europas Sorgenkinder

Katerstimmung nach dem gescheiterten Gipfel in Brüssel: Finanzverhandlungen werden wohl erst im Januar wieder aufgenommen. Auflagen für die Beitrittskandidaten werden stärker überprüft. Türkei-Debatte betont ergebnisoffen

AUS BRÜSSELDANIELA WEINGÄRTNER

Beobachter der europäischen Szene waren sich gestern darüber einig, dass ein Durchbruch bei den Finanzverhandlungen oder der EU-Reform im laufenden Jahr nicht mehr zu erwarten ist. Alle gehen davon aus, dass unter österreichischer Präsidentschaft zu Beginn kommenden Jahres die Verhandlungen über das Finanzpaket wieder aufgenommen werden und ein Sondergipfel zur Verfassung stattfindet. Wahrscheinlich wird es im zweiten Halbjahr 2006 den Finnen zufallen, das Finanzpaket endgültig zu schnüren.

Da Nochbundeskanzler Gerhard Schröder den Vorsitz mit Finnland getauscht hatte, muss Angela Merkel ihre erste EU-Ratspräsidentschaft nicht unter derart schwierigen Bedingungen antreten. Sie kommt Anfang 2007 an die Reihe und kann hoffen, dass die Krise dann beigelegt ist. Bis dahin werden die Karten ganz neu gemischt, denn in Frankreich stehen 2006 Präsidentschaftswahlen an. Von der deutsch-französischen Achse möchte sich die Union aber ohnehin verabschieden.

Für die neuen Mitgliedsländer bedeutet die Zwangspause bei der Finanzplanung, dass ihre Strukturpolitik für die Jahre ab 2007 im Nebel liegt. Gut geplante Projekte verlangen einen Vorlauf von mindestens einem Jahr. Werden die Anträge in letzter Minute hingepfuscht, kann die EU-Kommission die Subventionen nicht genehmigen, und die Fördermittel verfallen. Deshalb hatten die neuen Mitgliedsländer in der Nacht zum Samstag angeboten, durch eigene finanzielle Opfer zum Kompromiss beizutragen. Tony Blair verteidigte hingegen gestern seine harte Haltung. Er habe einem „wie gewöhnlich auf die Schnelle zusammengeschusterten Kompromiss“ diesmal nicht zustimmen können, sagte der britische Premierminister im Londoner Unterhaus: „Es war nicht das richtige Konzept für Großbritannien, und es war nicht das richtige Konzept für Europa.“

Als kuriose Randnotiz sollte der Kommentar von Bauernverbandspräsident Gerd Sonnleitner nicht unerwähnt bleiben. Er bezeichnete die europäische Agrarpolitik im Gegensatz zu Blair als einigendes Band für die europäische Identität. Sollten sich die Briten mit ihren Reformvorstellungen durchsetzen, verkomme die EU zu einer „unverbindlichen europäischen Freihandelszone“.

Politiker der Union wiederholten ihre Anschuldigung, Bundeskanzler Schröder trage wesentliche Schuld am Scheitern des Gipfels. Der europapolitische Sprecher Peter Hintze sagte, Deutschland habe „seine Vermittlerrolle komplett verloren“.

Noch ist allerdings völlig unklar, wo Angela Merkel in der Europapolitik hinsteuert. Zwischen der zum konservativen Wählerpotenzial zählenden deutschen Bauernlobby und den auf radikale Reformen setzenden Briten könnte sie rasch zwischen alle Stühle geraten. In der Türkei-Debatte bekam Merkel unerwartete Schützenhilfe von Exerweiterungskommissar Günter Verheugen. Er betonte in der Bild am Sonntag, dass die mit Bulgarien und Rumänien geschlossenen Verträge eingehalten werden müssten. „Über die bestehenden Zusagen hinaus können keine weiteren Versprechungen gemacht werden. Es gibt auch andere Möglichkeiten als die der Vollmitgliedschaft.“

Verheugen betonte ausdrücklich, dass die Verhandlungen mit der Türkei, die am 3. Oktober beginnen sollen, „ergebnisoffen“ geführt werden müssten. Ähnlich äußerte sich auch der derzeitige Erweiterungskommissar Olli Rehn gestern in Brüssel. Nun fürchten nicht nur die Türkei, sondern auch Kroatien, die Balkanländer und die Ukraine um ihre Beitrittsperspektive.

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