Neuer Blick auf das Leben am Rand

Der soziale Raum und die Geister der Vergangenheit: Die Reihe „Peripherie im Zentrum“ im Kino Arsenal stellt von Freitag an die französische Dokumentarfilmerin Alice Diop vor

Szene aus „Clichy pour l’exemple“ (2006) von Alice Diop Foto: Arsenal Institut

Von Fabian Tietke

Lebenswirklichkeiten entlang einer Schnellbahnlinie. An einem Waldrand wartet eine Familie darauf, dass sich das Wild aus dem Wald auf eine Lichtung traut. Etwas weiter stadteinwärts Richtung Paris schraubt der Automechaniker Ismael Soumaïla Sissoko unter freiem Himmel an Autos herum, telefoniert über das Whatsapp eines Neffen mit seiner Mutter in Mali. 20 Jahre war er nicht mehr da, jetzt kann er es nicht erwarten, bis er wieder hinkommt.

Der Bahnhof Sevran-Beaudottes im Morgengrauen und die Passagiere, die auf den ersten Zug warten, wecken in der Regisseurin Alice Diop Erinnerungen an ihre eigene Mutter, die als Putzfrau frühmorgens aus dem Haus musste, bevor sie selbst wach war. In der Kathedrale von Saint-Denis erinnert ein Gottesdienst an Louis XVI., der im Zuge der Französischen Revolution 1793 hingerichtet wurde.

„Nous“ („Wir“) heißt Alice Diops dokumentarisches Mosaik der Lebenswirklichkeiten auf der Île-de-France. 2021 gewann der Film auf der Berlinale den Preis für den besten Film in der Sektion Encounters. Am Freitag eröffnet „Nous“ eine Werkschau, die das Berliner Kino Arsenal Alice Diop widmet. „Peripherie im Zentrum – Die Filme von Alice Diop“ versammelt Dokumentarfilme, die seit 2005 entstanden sind, und präsentiert zudem Diops Spielfilmdebüt „Saint Omer“.

„Nous“ markiert gesellschaftliche Brüche und Konfrontationen subtil. Die weiße Familie zu Beginn des Films starrt vom einen Rand der Lichtung zum anderen, lauert auf das Wild, wenn auch zunächst nur mit der Kamera. Vor dem Wir der Familie breitet sich die Lichtung wie ein Raum des Anderen aus. Die morgendlichen Passagiere der Schnellbahn bilden ebenso wie der schwarze Automechaniker einen sozialen Kontrast zu der Familie, die andersherum unter den Gästen des monarchistischen Gottesdienstes kaum auffallen würde.

Zwischen den Protagonisten von „Nous“ liegen Welten, und doch bilden sie gemeinsam einen gesellschaftlichen Raum. Nur die Räume der Gedenkstätte für das Sammellager Drancy, von wo aus über 60.000 französische Jüdinnen und Juden in deutsche Vernichtungslager deportiert wurden, sind in dem Film komplett leer. Keine Besucher, nirgends.

Diops erster Spielfilm „Saint Omer“ feierte seine Premiere im September auf dem Filmfestival von Venedig. In der Struktur ähnelt der Film in vieler Hinsicht seinem Vorgänger. Er beginnt mit Bildern von Frauen, denen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Haare geschoren werden als Strafe für Formen der Kollaboration mit den deutschen Besatzer_innen. Eine junge Literaturprofessorin spricht dazu eine Passage aus „Hiroshima mon amour“ von Marguerite Duras, in denen Duras ähnliche Ereignisse aus der Perspektive einer der Frauen schildert.

Kurz darauf reist Rama, die junge Literaturprofessorin, zu einer Gerichtsverhandlung ganz in den Norden Frankreichs nach Saint Omer am Pas-de-Calais. Laurence Coly, eine junge Mutter, ist angeklagt, ihre 15 Monate alte Tochter ermordet zu haben. Vor Gericht entfaltet sich die Lebensgeschichte der schweigsamen Frau. Colys Familie kommt wie Ramas eigene aus dem Senegal. Über Tage sitzt Rama zwischen Frauen auf den Bänken des Gerichtssaals. Coly gibt keine Erklärung für die Tat.

Alice Diop ist eine der interessantesten französischen Dokumentarfilm­regisseurinnen

Die Angeklagte gibt nur zögernd Auskunft, Zeugen werden befragt. Die Lebensgeschichte wirft Rama zurück auf die Geister ihrer eigenen Vergangenheit, die Konflikte ihrer Familiengeschichte. Die Gerichtsverhandlung in „Saint Omer“ wirkt wie eine Rollenaufstellung der französischen Gesellschaft. Wie in „Nous“ setzt die Eingangsszene ein Thema, dessen Bedeutung für den Film sich – wie die Verbindungslinien zwischen der Lebensgeschichte Colys und Ramas eigenem Leben – erst allmählich erschließt.

Diop wurde 1979 in Aulnay-sous-Bois im Norden von Paris geboren. Ihre Eltern waren in den 1960er Jahren aus dem Senegal nach Frankreich übergesiedelt. Sie studierte Geschichte und visuelle Soziologie und wandte sich dann mit einem Studium an der Pariser Filmhochschule La Fémis dem Dokumentarfilm zu.

Mit der Reihe „Peripherie im Zentrum“ würdigt das Arsenal eine der interessantesten französischen Dokumentarfilmregisseurinnen. In vielen Filmen zum Leben in den Pariser Vorstädten seit dem Cinema beur der 1980er Jahre ging es um Identitäten und Selbstbehauptung, vor allem unter jungen Männern. Diop hat neue Formen für den Blick auf das Leben am Rande von Paris gefunden, in denen die Verbindungen wie auch die Konfliktlinien zwischen Menschen vielfältiger sind. Die Beschwörung einer geteilten Identität ist in Diops Filmen der präzisen Beobachtung einer komplexen Gesellschaft gewichen.

„Peripherie im Zentrum – Die Filme von Alice Diop“, Kino Arsenal, 25. bis 30. 11.