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Wenn es in der U-Bahn an Selbsterkenntnis fehlt

U 1

9 Kilometer Streckenlänge.

Die Linie U 1 der Berliner U-Bahn kennt man in der Welt auch durch das Grips-Musical „Linie 1“, 1986 uraufgeführt und weiter im Programm. Die koreanische Adaption wurde zum bis dahin erfolgreichsten Musical in Südkorea.

Samstagnacht in der Berliner U 1 zwischen Halleschem Tor und Möckernbrücke fläzt sich ein Schrank von einem Mann auf die Bank gegenüber und bilanziert sein Leben: Wie er es vergeigt hat, weil er „immer mal wieder ausgerastet“ ist. Vermutlich hat er auch gesessen. Und jetzt ist halt kacke.

So viel Selbsterkenntnis wäre lobenswert, wenn sie nicht im Suff vorgetragen würde, mit diesem Unterton von „in Wahrheit sind die anderen schuld“ – und im nächsten Augenblick schon wieder vorbei wäre.

„Du siehst ja aus wie ein Hase!“, ruft er plötzlich und sieht an mir vorbei in den Wagen. „Ha, ha, wie läufst denn du rum, du Pfeife!“

Weil er das in einem aggressiven Ton vorträgt, weicht der Mensch im Hasenkostüm zurück. „Ha, ha, der macht sich in die Hosen“, freut sich der Besoffene und wirft sich mit einem Lachen, in das ein Stück Verzweiflung gemischt ist, lang auf die Sitzbank. Seine Frau wendet vorsichtig ein, das Kostüm sei doch ganz niedlich. Ich überlege, ob ich dem Menschen im Kostüm nicht beispringen sollte. Stattdessen schaue ich mich nicht mal um. Diese lebende Bombe will ich nicht zünden. Gernot Knödler