Widerstand im Nationalsozialismus: Späte Ehrung für stille Heldentat
Vier Eheleute werden im Roten Rathaus posthum als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Sie verbargen in der Nazi-Zeit ein jüdisches Ehepaar.
Im Dezember 1942 war das. Gestapo-Männer waren in das Haus in der Torstraße 113 in Mitte gekommen, um die Nachbarn abzuholen. Henriette und Moritz Mandelkern hatten den Wagen gesehen, als er vor dem Haus stoppte. Das jüdische Ehepaar verbarg sich in der Wohnung und ließ die Tür trotz des eindringlichen Schellens verschlossen. Das Kommando zog unverrichteter Dinge ab.
Aber die Mandelkerns wussten, dass sie schon sehr bald wiederkommen würden. In Deutschland hatten schon mehr als ein Jahr zuvor die Deportationen in die Vernichtungslager im besetzten Osten begonnen. Ihr Sohn Siegfried war schon verschwunden, deportiert nach Polen. Er sollte nie wieder auftauchen.
An diesem Mittwoch steht Cornelia Ewald im Festsaal des Roten Rathauses auf der Bühne, neben sich Bruno Schmid, Ururenkel der Schwartzes, der israelische Botschafter Ron Proser und Berlins Bürgermeisterin Bettina Jarasch. Vor ihr sitzen viele hundert Gäste. Heute erhält das Ehepaar Schwartze posthum die Ehrung als „Gerechte unter den Völkern“, die höchste Auszeichnung, die der Staat Israel an Nichtjuden vergibt.
Cornelia Ewald darf als Nachgeborene die Familie repräsentieren. Es ist der Dank dafür, dass die Urgroßeltern 1942 den Mandelkerns das Leben retteten. Der Botschafter übergibt die Urkunde an Ewald, die Bürgermeisterin die Medaille an die Enkelin Anne Schmid. Anwesend sind auch Verwandte der Geretteten. Sie sind aus der ganzen Welt nach Berlin gereist.
Überleben in der Kammer
Was damals im Dezember 1942 geschehen ist, hat Moritz Mandelkern schon kurz nach dem Krieg aufgeschrieben. Noch am Abend des verhinderten Gestapo-Besuchs sei Anna Schwartze aufgetaucht, die gute Nachbarin, die ihnen, die nur noch Lebensmittelkarten mit minderwertigen Waren erhielten, schon mal Äpfel und Weißbrot vorbeigebracht hatte. Fünfmal klopfen, sie wussten, dass sie an der Tür stand. Schwartze brachte Brötchen und Wein, machte Wasser heiß und unterbreitete den Verzweifelten ein Angebot: Einer der Verfolgten könnte sich doch in der winzigen ungeheizten Kammer in ihrer Wohnung verbergen.
Es war die Rettung. 18 Monate lang versteckte sich Moritz Mandelkern in dieser Kammer. Es war kalt, es war ungemütlich, man konnte sich kaum bewegen. Doch er bekam von den Schwartzes etwas zu essen. Und das Wichtigste: Er lebte.
Seine Frau Henriette fand derweil Unterschlupf bei entfernten Verwandten im brandenburgischen Groß Schönebeck. Die betrieben dort einen Bauernhof. Als 1944 das Haus in der Berliner Torstraße, in dem sich Moritz Mandelkern versteckt hielt, von Bomben getroffen niederbrannte, begab sich auch er nach Groß Schönebeck. Helene und Friedrich Hübner nahmen ihn wie schon zuvor seine Frau auf. Ohne Gegenleistung und auf unbestimmte Zeit.
Es sind dies die beiden anderen Menschen, die an diesem Mittwoch im Roten Rathaus die Ehrung als „Gerechte unter den Völkern“ von der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem erhalten. Für das schon lange verstorbene Ehepaar Hübner ist die Enkeltochter Gundela Suter ins Rathaus gekommen. Sie wusste im Gegensatz zu Cornelia Ewald schon länger um diesen hellen Punkt in der Familiengeschichte.
Die meisten schauten weg
Suter erinnert sich daran, dass die drei Töchter der Familie Hübner damals nicht eingeweiht waren und sich wunderten, dass „Onkel Moritz“ und „Tante Henriette“ immer in der Scheune verschwanden, wenn sich auf dem Hof Besuch ankündigte. Erst nach der Befreiung am 25. April 1945 erfuhren sie die Hintergründe. Da hatte das Ehepaar Mandelkern schon dafür gesorgt, dass Familie Hübner durch die Soldaten der Roten Armee nichts geschah.
29.921 Menschen weltweit haben seit 1963 von Yad Vashem die Ehrung „Gerechte unter den Völkern“ erhalten. Unter ihnen befinden sich auch 641 Deutsche. „Es waren viel zu wenige Menschen“, die damals den Verfolgten zur Seite standen, daran erinnert Bettina Jarasch in ihren einführenden Worten. Die meisten hätten weggeschaut. Und sie dankt dafür, dass heute an vielen Orten in Berlin dieser „stillen Helden“ gedacht werde und ihnen mit einem Museum der Gedenkstätte Deutscher Widerstand Referenz gezeigt wird.
Der israelische Botschafter Ron Prosor nennt die christlichen Retter der verfolgten Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus „Helden des Kampfs für die Freiheit“. Anna und Bruno Schwartze, Helene und Friedrich Hübner, sie seien „Beispiele dafür gewesen, was es heißt, ein moralischer Mensch zu sein“. Ihre Taten würden zeigen: „Jeder kann mutig sein.“
Und Prosor erinnert an seine eigene Familiengeschichte. Seine in Berlin lebenden Großeltern hätten sich schon Ende 1933 zusammen mit ihren Kindern zur Emigration nach Erez Israel entschlossen. Wären sie geblieben, hätte es auch für sie „stille Helden“ gegeben?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!