Die Straße als Bühne

THEATERFESTIVAL Im Stück „Die Sprache des Feuers“ dokumentiert das mexikanische Duo Lagartijas tiradas al sol die Geschichte des bewaffneten Aufstands gegen die übermächtige PRI. Zu sehen ist das Theaterstück im Rahmen des Festivals Theaterformen in Braunschweig

Auf Kunstrasen werden mit Plastiksoldaten Guerillaaktionen nachgestellt

VON ROBERT MATTHIES

Offiziell hatte das Volk in Mexiko laut Artikel 39 der Verfassung jederzeit das Recht, die Regierungsform zu ändern. Die Realität aber sah ganz anders aus: De facto dominierte die Partei der institutionellen Revolution, die Partido Revolucionario Institucionali, (PRI) seit 1929 über 70 Jahre lang die mexikanische Politik, stellte sämtliche Staatspräsidenten, bis Ende der 80er alle Gouverneure und die überwältigende Mehrheit in allen Parlamenten. Wahlen hatten angesichts dieser Übermacht nur eine akklamatorische Funktion, um den Schein demokratischer Legitimation zu garantieren. Aber gegen die De-Facto-Einparteienherrschaft regte sich auch vielfältiger Widerstand, den die herrschende PRI brutal niederschlug: Am 2. Oktober 1968, zehn Tage vor der Eröffnung der Olympischen Spiele, verübte das „Batallón Olimpia“ auf der Plaza de las Tres Culturas im Stadtteil Tlatelolco ein Massaker an protestierenden Studierenden mit mehreren Hundert Toten. Viele gingen anschließend in den Untergrund und begannen den bewaffneten Kampf gegen die Staatsmacht.

Akribisch und mit großer Ernsthaftigkeit hat das 2003 gegründete mexikanische Duo Lagartijas tiradas al sol in den letzten Jahren die Geschichte dieses bewaffneten Aufstandes gegen die „offizielle Partei“ des Landes von den frühen 1960ern bis in die 1990er dokumentiert, hat die Ergebnisse zuerst im Blog „El Rumor del Oleaje“ („Das Rauschen der Wellen“) veröffentlicht und anschließend die Möglichkeiten des zukünftigen Widerstandes im Buch „El Rumor de este Momento“ („Das Gerücht des Augenblicks“) skizziert.

In einem dritten Schritt ist aus dem Material vor zwei Jahren das Dokumentationstheaterstück „El Rumor del Incendio“ („Die Sprache des Feuers“) entstanden. Anderthalb Stunden lang erzählen Luisa Pardo und Gabino Rodríguez gemeinsam mit dem Schauspieler Francisco Barreiro darin die Geschichte des Aufstandes anhand der exemplarischen Biografie der Historikerin und Guerilla-Kämpferin Margarita Urías Hermosillo. Dabei wird gespielt und erzählt, werden historische Videos, Dokumente und Fotos projiziert und auf dem Kunstrasen mit Plastiksoldaten und ferngesteuerten Autos Guerillaaktionen nachgestellt.

Trotz all des Spielzeugs verlangt „Die Sprache des Feuers“ dem Publikum aber mit seiner endlos erscheinenden Aneinanderreihung von Namen, Daten und Fakten einiges an Geduld und Konzentration ab: Einen unterhaltsamen Abend allein aber darf man von den Mexikanern auch nicht erwarten. Denn hier geht es ganz praktisch um die gerade erst begonnene Aufarbeitung eines nationalen Traumas und die Möglichkeiten einer Positionierung für die Zukunft.

Und so steht am Ende die Frage, wie sich die Kinder der eigenen Generation einmal zur Jugend ihrer Eltern verhalten werden. Und der Appell, in einer veränderten Gegenwart weiter nach neuen Mitteln für den Kampf um eine gerechtere Welt zu suchen. Im letzten Jahr gab es dafür beim Zürcher Theaterspektakel den Förderpreis. Auch, weil Lagartijas tiradas al sol ihre Projekte gemeinsam als Gruppe erarbeiten. Ein nicht unwesentlicher Aspekt solcher Arbeiten – dessen Tragweite man auf der Bühne nur erahnen kann.

Zu sehen ist das engagierte Stück von Samstag bis Montag im Rahmen des Festivals Theaterformen, das dieses Jahr in Braunschweig ab morgen elf Tage lang aktuelle internationale Produktionen zeigt. Insgesamt sind unter dem Motto „Du bist die Stadt“ 140 Künstler aus zwölf Ländern in 59 Vorstellungen zu sehen, die sich um die Frage drehen, wie weltweit Fragen der Identität, des Gemeinsamen und der sozialen und politischen Teilhabe wieder auf der Straße verhandelt werden.

Ein regionaler Schwerpunkt liegt dabei diesmal auf Theater aus Kroatien: Das Autoren- und Regieduo Bobo Jelčić und Nataša Rajković etwa setzt das Publikum in „Izlog – Schaufenster“ in verlassene Schaufenster und lässt die Straße zur Bühne werden. Zu sehen sind außerdem zwei Uraufführungen: Das Staatstheater Braunschweig inszeniert mit Ivana Sajkos „Landscape with the fall“ ein als Auftragsarbeit entstandenes Stück der kroatischen Autorin Ivana Sajko, das einflussreiche Zagreber Jugendtheater z/k/m/ inszeniert mit „Yellow Line“ im Gegenzug eine Auftragsarbeit von Juli Zeh und Charlotte Roos. In „Verdammt sei der Verräter seiner Heimat!“ setzen sich der kroatische Regisseur Oliver Frlhić und das slowenische Ensemble des Mladinsko Theaters schließlich mit den Ursachen und Folgen des Balkankrieges auseinander.

■ Braunschweig: Do, 31. 5. bis So, 10. 6., Staatstheater Braunschweig, www.theaterformen.de