Creischers Osmose

Die erste Ausstellung der neuen GAK-Chefin Gabriele Mackert zeigt: Gesellschaftliche Relevanz ist ein Kriterium

Schafft die GAK Gerechtigkeit? Sozialen Frieden? Das Paradies auf Erden? Berechtigte Hoffnungen. Schließlich verfügt die GAK (Gesellschaft für Aktuelle Kunst) jetzt über einen Apparat. Funktionsbezeichnung: „Zum osmotischen Druckausgleich von Reichtum bei der Betrachtung von Armut“.

Schöpferin des Wunderwerks ist Alice Creischer, also eine Frau, von der man zentrale Fragestellungen („Ist ein erotischer Staat möglich?“) ebenso kennt wie praktische Lösungen. Zum Beispiel die mobile Installation „Alle Tage Jericho. Ich die Posaune“: Eine Maschine mit mehreren Großmembranen und Sprechrohren, die man vor allerlei als unüberwindbar geltende Mauern schieben konnte. Vielleicht aber gar nicht sollte.

Als Verfasserin des Ausstellungsreaders „ÖkonoMiese“ interessiert sich Creischer auch für Wirtschaft. Zum Beispiel für Argentinien im Jahr 2003. Der dramatische Einbruch der Landeswährung hat das Land ins Chaos gestürzt. Unterstützt vom Goetheinstitut reist Creischer nach Buenos Aires und sucht den Kontakt zu lokalen Künstlergruppen. Die sind schon ziemlich aktiv: Ursprünglich nur inszenierte Fäkalien-Attacken auf Banken haben sich verselbständigt, die normale Bevölkerung ist in Aufruhr. Creischer besucht eine besetzte Textilfabrik, in der die Arbeiter in Eigenregie Herrenanzüge fertigen und entwickelt eigene Modelle, etwa durch Einbeziehung der alten Stempelkarten. Mit der „Grupo de Arte Callajero“ inszeniert sie eine Flussfahrt auf dem Riachuelo, der Buenos Aires von seinem armen Umland abgrenzt. Die wenigen Brücken werden drakonisch überwacht, das Wasser selbst ist fast so tödlich wie die Schüsse der Patrouillen: vergiftet „von Biotech-Konzernen wie BASF“, hat Creischer recherchiert. Jetzt ist das Video der Bootsfahrt, vorbei an Müllbergen und Steine schmeißenden Kindern, in den GAK-Räumen in der Weserburg zu sehen, zwischendurch die venezianischen Masken der „Callajero“-SchauspielerInnen. Eine System-Collage, ähnlich gegensätzlich wie Flusselend und die eingezäunten Wohngebiete der Reichen. Creischers Kommentar: „Die Klasse ist in einer ständigen Angst um sich selbst ... eine vorbewusste, chronische Nervenreizung, die auf den prallen osmotischen Druck von Armut basiert.“

Ja, die Osmose: der Durchtritt von Stoffen durch eine poröse Wand, die zwei Flüssigkeiten voneinander trennt. Um ein Missverhältnis der Konzentration der darin enthaltenen Stoffe auszugleichen. Ja, da könnte man doch ...

Erstmal muss man Creischers Texte lesen. Dazu kann man an einem zehn Meter langen Tisch Platz nehmen und im Kompendium ihrer Textproduktion der vergangenen 20 Jahre blättern. Freundlicherweise auf der Basis von Seitenzahlenverweisen an den ausgestellten Werken. Zu neun Monaten Argentinien haben sich dort auch 16 Tage Reiseerfahrung in Indien niedergeschlagen.

Jetzt aber: Wie funktioniert der verheißungsvolle Apparat? „Es ist eine Versuchsanordnung“, präzisiert Creischer – die beim Betrachter innere Bilder erzeugen solle. Zunächst mal die Äußeren: Da gibt es verschiedene Skalen, die die Wissenschaft zur Armutsmessung anbietet – Konsummöglichkeiten, Stundenlohn, Kalorien am Tag. Außerdem gibt es Creischers klare Aussage: „Ich bin sehr gegen Nutzanwendungen“. HB

Heute (23 Juni, 19 Uhr) liest Creischer aus ihren „Erpresserbriefen an die Geisterwelt“