großraumdisco: Wo Bonn sich locker macht
Abgesehen von ein paar historischen Highlights – 1853 führte Robert Schumann im Ballsaal seine „Märchenbilder“ urauf, 1963 wurde John F. Kennedy auf der Rathaustreppe bejubelt, im selben Jahr kam Zarah Leander zur Premiere ins Metropolkino – ist der Bonner Markt ein eher ruhiges Pflaster. Selbst das überschaubare Nachtleben spielt sich ein paar Hundert Meter weiter in der Altstadt ab. Außer Donnerstagabends, wo Saxofon-, Klarinetten- und Kontrabassklänge über den Platz schallen: Ein sechsköpfiges Ensemble spielt im Eingang des ehemaligen Kinos Swing-Klassiker. Davor stehen vier Gartenstühle mit Sitzkissen, das Stammpublikum hat sich die besten Plätze gesichert. Aber die meisten wollen gar nicht sitzen. Für „Lindy Hop Bonn“, ein loses Netzwerk von Hobby-Tänzer*innen, ist der Donnerstag ein Pflichttermin. Der im New York der 1920er Jahre enstandene afroamerikanische Tanz boomt seit Jahren auch in Deutschland.
Es ist das letzte Mal in dieser Saison, das nasskalte Wetter lädt eigentlich nicht mehr zum Draußentanzen ein. Trotzdem wirbeln die Paare über das Kopfsteinpflaster: Jüngere und Ältere, Anfänger*innen und Profis. Dieser Tanzstil lebt von Spontaneität und Improvisationen, es gilt, die Absichten der Partner*innen zu antizipieren und im gleichen Takt zu swingen. Manchmal werden Partner*innen ausgespannt – das heißt „stealing“ und ist im Lindy Hop erlaubt.
Lindy Hop ist untrennbar mit der Geschichte rassistischer Diskriminierung afroamerikanischer Menschen verbunden. Um dem Alltag einer unterdrückenden Gesellschaft für ein paar Stunden zu entkommen, kamen Afroamerikaner*innen in den segregierten USA zum Tanzen zusammen: Leichtigkeit und Fröhlichkeit als Ausdruck des Protestes gegen die Unfreiheit.
Um 21.30 Uhr bahnt sich ein als mittelalterlicher Nachtwächter verkleideter Stadtführer mit Anhang zielsicher seinen Weg über die Tanzfläche, so wie jede Woche. Die Tourist*innen sind ganz entzückt von dem Anblick, der sich ihnen bietet, manche schnippen versonnen mit.
Während die Lindy-Hop-Abende inzwischen zur festen Institution des Bonner Stadtlebens geworden sind, suchen andere Tanzwillige weiterhin nach geeigneten Gelegenheiten. Ein Salsa-Abend unter freiem Himmel am Rhein wurde vergangenen Sommer vom Ordnungsamt beendet, der Initiator sogar für kurze Zeit in Gewahrsam genommen. Es entbrannte eine Diskussion über nichtkommerzielle Tanzveranstaltungen, Oberbürgermeisterin Katja Dörner positionierte sich auf Twitter für „Leben, Lockerheit und Flair in der Stadt“. Bonner Tänzer:innen organisierten sogar eine Tanzdemo – Footloose in der rheinischen Beamtenstadt.
Kurz vor zehn stürzen sich die Tänzer*innen euphorisch in die letzten Takte, mit dem letzten Glockenschlag des Bonner Münster verklingt dann auch die letzte Note von „Summertime“. Nach dem Applaus verstreut sich die Tanzgemeinde in alle Richtungen. Auch Nachtwächter gibt es keine mehr, der Marktplatz im Mondschein ist wieder sich selbst überlassen. Hanna Fath
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen