Das große Schweigen

VERDRÄNGTE REGIONALGESCHICHTE Der Aumunder Pastor Ingbert Lindemann hat jahrelang Informationen über die Opfer und die Täter der Naziherrschaft in seiner Gemeinde zusammengetragen

„Vor allem ist es untersagt, bei außenstehenden Kreisen Mitleid zu erregen“

Fassungslos sei er, sagt Pastor Ingbert Lindemann. Noch heute. Es geht darum, wie auch eine Kirchengemeinde sich mitschuldig machen kann – auch durch Schweigen. Als er im Jahre 1976 die Pfarrstelle in Aumund übernahm, hatte ihm niemand gesagt, dass 38 Jahre zuvor noch direkt neben Kirche eine Synagoge stand – bis zum 9. November 1938. Obwohl sich viele der Gemeindemitglieder daran hätten erinnern können.

„Und ich wusste auch nicht, dass Mitglieder meiner evangelischen Gemeinde damals in Konzentrationslager geschafft und ermordet worden sind, weil sie nach den Rasse-Gesetzen als Juden galten“, sagt er. Eher beiläufig erfuhr er davon, wenn ältere Gemeindemitglieder eine Bemerkung fallen ließen. Niemand hielt es für nötig, die Geschichte der Gemeinde in den zwölf Jahren der Naziherrschaft aufzuschreiben.

Der Pfarrer hat dies in den 30 Jahren seiner Arbeit in Aumund nachgeholt. Im Juni ist im Donat-Verlag ein kleines Bändchen erschienen, in dem er von seinen Versuchen berichtet, etwas über „Leben von Aumunder Juden nach 1933“ in Erfahrung zu bringen. In früheren Jahren lebten noch viele in der kleinen Gemeinde Aumund, die die Geschichte erlebt hatten – aber sie schwiegen – die Täter, aber auch die Opfer. „Rätselhaft“ sei das Phänomen, sagt der Pastor. Er vermutet, dass ihnen und ihren Angehörigen peinlich gewesen sei, was sie von ihren Nachbarn erleiden mussten.

Lindemann hat ihnen ein Denkmal gesetzt: Mehr als 20 Namen nennt er und die der Straßen, in denen sie gelebt hatten: Opfer wie Marie Huntemann, und Täter wie der Vegesacker Kaufmann Walter Többens und der Lesumer Bürgermeister Frist Klöster. Und er nennt auch den Namen von Reinhard Grußendorf, einem Amtsvorgänger in der Kirche von Aumund, der die SA-Uniform unterm Talar trug und willig aus den Kirchenbüchern Auskunft darüber gab, wer Halb- und wer Vierteljude war. „Die Kirche machte sich so zum Handlanger der Judenverfolgung“, konstatiert Lindemann.

Über Marie Huntemann aus der Schillerstraße 53 wusste, als Lindemann anfing, niemand etwas in der Christopherus-Gemeinde Aumund/Fähr. Aus den Kirchenbüchern ging nur hervor, dass sie am 25. Juli 1942 Selbstmord begangen hatte. In mühevoller Kleinarbeit rekonstruierte Lindemann ihr Ende. Selbst die Enkeltochter, die er in den USA aufspürte, wusste nicht, warum die Oma freiwillig in den Tod gegangen war. Freiwillig? Aus den NS-Akten im Staatsarchiv erfuhr der Pastor schließlich: Zwei Wochen vor ihrem Selbstmord hatte sie erfahren, dass sie sich zum Abtransport nach Theresienstadt melden sollte – an ihrem 79. Geburtstag. „Wir bitten Sie, mit größter Ruhe Ihre Vorbereitungen zu treffen und über die Abwanderung nicht mit der deutschblütigen Bevölkerung zu sprechen“, heißt es in dem Brief, „vor allem ist es untersagt, bei außen stehenden Kreisen Mitleid zu erregen.“ Wusste Marie Huntemann, was Theresienstadt bedeutet? Offenbar. Einige jüdische Familien aus Fähr-Lobbendorf waren in den Jahren zuvor in Konzentrationslager „abgewandert“ worden. „Die Aumunder haben damals den Mund nicht aufgemacht“, schreibt Lindemann.

Ausführlich schildert er auch die Zerstörung der Synagoge: Die Feuerwehr hatte das Benzin besorgt. SA-Leute betraten gemeinsam mit dem Aumunder Bürgermeister Hillmann und Sturmhauptführer Röschmann die Synagoge und zündeten sie an. Die Schaulustigen wurden im Auftrag der SA fotografiert, die Bilder später als Postkarte gedruckt. „Die Gesichter der Menschen sind keineswegs begeistert“, schreibt Lindemann, „eher nachdenklich, manche neugierig, andere sehr ernst.“ Einer aber grinst, als sich die Kamera sich auf ihn richtet: der Aumunder SA-Mann Ernst Röschmann. KAWE

Ingbert Lindemann, „Die H. ist Jüdin“, Donat, 116 S., 12,80 €. Buchvorstellung: 19 Uhr, Kapitel 8