Drinnen bleiben

Am 17. Februar 2012 wurde der Stuttgarter Mark Pollmann zu einer Geldstrafe wegen Hausfriedensbruchs verurteilt, weil er am 26. Juli 2010 den Nordflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs zusammen mit 54 weiteren Demonstranten besetzt hatte. Doch statt die Geldstrafe zu bezahlen, trat Mark Pollmann eine zehntägige Ersatzfreiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt Rottenburg an, um ein politisches Zeichen zu setzen

von Matthias Staber

Als sich am Freitag, 25. Mai, gegen 11 Uhr das schwere Stahltor der Justizvollzugsanstalt Rottenburg hinter Mark Pollmann ins Schloss schiebt, verharrt das Mikro der Radiomoderatorin in Position: Das Poltern des Knasttores als perfekter Originalton für die Geschichte über einen Mann, der ins Gefängnis geht, um ein politisches Zeichen zu setzen. Doch es gibt nur ein dezentes „Plopp“, als das Tor in Schließposition einrastet. Und Mark Pollmann ist weg, nachdem er noch einmal leise „Tschüss“ gesagt hat. Wenn alles läuft wie gedacht, ist er am Sonntag, 3. Juni wieder draußen. Eine Feier ist nicht geplant.

„Ich möchte die mir zugewiesene Rolle in diesem schmutzigen Spiel nicht spielen“, sagt Mark Pollmann am Morgen zuvor auf dem Balkon seiner Wohnung im Stuttgarter Osten. Die ihm zugewiesene Rolle spielen, das hieße: zehn Tagessätze à 35 Euro Geldstrafe plus Gerichtskosten, insgesamt knapp 800 Euro. Oder zehn mal sechs Stunden gemeinnützige Arbeit leisten. Doch „ich will mich nicht freikaufen“, sagt Mark Pollmann.

Deswegen verweigerte er vor ein paar Wochen dem Gerichtsvollzieher den Zutritt zur Wohnung, die er mit seinem Partner bewohnt. Die Konsequenz heißt zehn Tage Ersatzfreiheitsstrafe. Eigentlich ist die Option Knast statt Geldstrafe vom System nicht gewollt. Und genau darum geht es Mark Pollmann.

Der Haftantritt wird zum Medienereignis

Am 17. Februar 2012 verurteilt Richter Harald Fritz ihn und drei weitere Mitangeklagte am Stuttgarter Amtsgericht zu Geldstrafen, auf Antrag von Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler. Am 26. Juli 2010 hatte Pollmann zusammen mit 54 weiteren Demonstranten den Bonatzbau besetzt, als klar wurde, dass der Abriss unmittelbar bevorsteht. Es ist das Datum, als der Protest gegen Stuttgart 21 in Widerstand umschlägt. Nach rund vier Stunden räumt die Polizei den Nordflügel. Einige Demonstranten lassen sich von Polizisten raustragen. Mark Pollmann geht selbst, in Begleitung zweier Polizisten. Die Deutsche Bahn AG erstattet Anzeige wegen Hausfriedensbruchs.

Es sei ein politischer Prozess gewesen, sagt Mark Pollmann: Oberstaatsanwalt Häußler habe auf jeden Fall eine Verurteilung gewollt, egal, wie gering. Um ein Zeichen zu setzten. Nun setzt Pollmann seins dagegen.

Am Freitagmorgen trifft auf dem Rottenburger Marktplatz eine kleine Gruppe von Stuttgart-21-Aktivisten auf fast noch mal so viele Journalisten. Zwei regionale Fernsehteams sind angerückt, mehrere Tageszeitungen, ein Radioteam vom SWR. Enttäuschung macht sich breit, als Mark Pollmann sagt, er habe eigentlich nicht vor, eine Ansprache zu halten. So habe es aber in der Einladung für die Presse geheißen, meckert einer der Journalisten. Also hält er doch eine kleine Rede in Kameras, Mikrofone und Notizblöcke hinein. Die Argumente gegen S 21 kennt der Diplom-Geograf in- und auswendig. Bei öffentlichen Auftritten agiert der Aktivist selbstsicher und souverän.

Wenn Mark Pollmann von sich erzählen soll, kommt er dagegen manchmal ins Stocken. Lächelt verlegen. Seine 42 Jahre sind ihm ohnehin nicht anzusehen. Er wirkt dann ein bisschen wie ein schüchterner Bub, der nicht versteht, was an seiner Person interessant sein soll. Er sei kein Partymensch: „Auf Partys bin ich wahrscheinlich der größte Langweiler.“ Er sei Frühaufsteher. Deswegen macht ihm die Aussicht, dass im Gefängnis morgens um sechs Uhr die Nacht vorbei ist, nichts aus. Hobbys? „Ja klar, ich singe in einem Kirchenchor“, sagt er, zögert kurz, lächelt verlegen, was ihm wieder einmal locker fünf Lebensjahre aus den Gesichtszügen nimmt, korrigiert sich dann: „Ich habe in einem Kirchenchor gesungen. Momentan ist es mir nicht möglich, in dieser Stadt in einem Chor zu singen.“

Denn Stuttgart 21 hat die Liebesbeziehung erschüttert, zwischen Mark Pollmann und der Stadt. „Ich liebe Stuttgart“, sagt er: „Wie die Innenstadt mit Parks verbunden ist, dieses Grüne an Stuttgart.“ Mark Pollmann hat viele Städte gesehen: Geboren ist er in New York, aufgewachsen in São Paulo, Rio de Janeiro und Düsseldorf. Studiert hat er in Tübingen. „Aber Stuttgart ist eigentlich die schönste Stadt, die ich kenne.“

Doch seit die Stadt plant, den Bahnhof tiefer zu legen und dafür eine riesige Schneise in die Innenstadt zu reißen, haben sich die Dinge für Mark Pollmann verändert: „Die Atmosphäre ist eine andere geworden. Die Menschen scheinen sich zu schämen für das, was in ihrer Stadt passiert.“ Das sei sogar seinem Friseur aufgefallen, der eigentlich für Stuttgart 21 ist: Alle seine Kunden seien depressiv, habe der Friseur gesagt, obwohl doch Frühling sei.

An rund 30 Wochenenden im Jahr empfingen Mark Pollmann und sein Lebenspartner früher Besuch in ihrer Stuttgarter Wohnung, darunter viele Freunde aus dem Ausland. „Seitdem die Berichterstattung vom Schwarzen Donnerstag um die Welt gegangen ist, ist das um 90 Prozent zurückgegangen“, erzählt Mark Pollmann: „Stattdessen rufen uns immer öfter besorgte Freunde an, ob wir nicht ein paar Tage zu ihnen kommen wollen.“

Ein Gießplan gegen vertrocknete Bäume

Politisch aktiv sei er vor Stuttgart 21 nie gewesen. Die Geschichte mit dem Gießen der Bäume, die 2006 durch die Lokalpresse ging, sei keine politische Aktion gewesen: „Es geht einfach darum, aufmerksam zu sein für die Dinge, die im Umfeld passieren. Das sollte normal sein.“

Als Mark Pollmann damals aufmerksam vom Balkon seiner Wohnung blickte, sah er, dass die Bäume starben. „Es war ein sehr heißer Sommer, und die Bäume bekamen offensichtlich zu wenig Wasser.“ Überall habe er angerufen, beim Hausmeister der Schule nebenan, bei der Stadt. Doch niemand habe sich zuständig gefühlt. Also wurde Mark Pollmann aktiv: Morgens vor seiner Arbeit als selbstständiger Finanzberater und Versicherungsfachmann schleppte er Wassereimer, und am Abend nach der Arbeit. „Empirisch-wissenschaftlich“, unter Anwendung seines meteorologischen Wissens, wie er sagt, berechnete Mark Pollmann den Wasserbedarf der einzelnen Bäume in seiner Straße, erstellte einen Gießplan, verteilte Flugblätter: „Ein Nachbar aus dem Haus schräg gegenüber hat dann sogar mitgegossen, das habe ich irgendwann gemerkt.“

Eine parteipolitische Agenda verfolge er nicht, sagt Mark Pollmann. Es gehe nur darum, gegen ein Projekt vorzugehen, das „Murks ist und Murks bleibt“. Mit seinem Wissen als Diplom-Geograf könne er „ein Stück weit einschätzen, wo die Probleme bei diesem Projekt liegen“. Seine freiberufliche Tätigkeit als Finanzberater fuhr Mark Pollmann zurück. Mindestens 20 Stunden Engagement gegen Stuttgart 21 bringt er seit 2007 wöchentlich auf. „Wann ich freie Wochenenden hatte, kann ich an einer Hand abzählen.“

Auf dem Rottenburger Marktplatz braucht die Radiomoderatorin ein paar Sätze von Mark Pollmann direkt ins Mikro. Er setzt an: „Aus Gewissensgründen lehne ich Stuttgart 21 ab. Das Projekt wird Menschenleben kosten.„ Die Moderatorin zieht das Mikro weg, schüttelt ungeduldig den Kopf. Mark Pollmann zögert kurz, setzt neu an: „Ich trete eine Ersatzfreiheitsstrafe an, statt die Geldstrafe zu bezahlen, weil ich nicht die mir zugewiesene Rolle in dieser Schmierenkomödie spielen möchte.“ Die Moderatorin nickt, besser.

Dass sie den Mut von Mark Pollmann bewundern würden, ins Gefängnis zu gehen, um ein Zeichen zu setzen: Das sagen auf dem Rottenburger Marktplatz viele der Aktivisten, die den seinen Strafantritt als Gelegenheit für eine kleine Demonstration nutzen. „Wir lassen uns nicht einschüchtern“, steht auf einem der Protestplakate. „Wir lassen uns nicht kriminalisieren“, auf einem anderen.

Ein flaues, mulmiges Gefühl, wie vor einer Prüfung

Als sich die Kolonne in Bewegung setzt, vom Rottenburger Marktplatz die Treppen hoch zur JVA, sind die Plätze rasch verteilt: vorneweg die Kamerateams, die noch ein paar Aufnahmen brauchen vom Protest in Bewegung. Dahinter Mark Pollmann, umringt von Weggefährten und Journalisten. Vom „gewaltigen volkswirtschaftlichen Schaden“, den das Projekt anrichten werde, erzählt Mark Pollmann, und davon, dass „Stuttgart 21 Menschenleben kosten“ werde.

Vor dem Eingang verabschiedet sich Mark Pollmann von seinen engsten Weggefährten mit einer Umarmung. Die Fotoapparate der Journalisten verfolgen jede Bewegung. Mark Pollmann zögert, lächelt wieder einmal verlegen dieses Lächeln, das ihn um einige Jahre jünger macht. Es scheint, als werde ihm zum ersten Mal klar, dass er Teil einer Inszenierung ist, deren Drehbuch nicht allein von ihm geschrieben wird. „Jetzt vielleicht lieber nicht fotografieren“, sagt er, kommt ins Stocken: „Das ist jetzt vielleicht zu privat.“ Das Klicken der Spiegelreflexkameras, das nicht aufhört, macht deutlich: Was hier privat ist, darüber entscheidet nicht mehr Mark Pollmann.

Angst vor dem Knast habe er keine, sagt er: „Nur so ein flaues, mulmiges Gefühl, wie vor einer Prüfung.“ Wenn er um seine körperliche Unversehrtheit fürchten müsse, „würde ich es nicht machen“.

Den „Zivilen Ungehorsam“ hat er im Gepäck

Die Option, die Ersatzfreiheitsstrafe abzubrechen und die restliche Geldstrafe zu bezahlen, hat Mark Pollmann jederzeit: „Ich werde davon Gebrauch machen, wenn ich merke, dass es mir schlecht geht“, sagt er. „Jede erste Januarwoche gehe ich zum Fasten in ein Kloster. Da lebe ich auch in einer Zelle.“

Mehr als seine Kleider am Leib, seine Zahnbürste, Bücher und ein Manuskript darf Mark Pollmann nicht in die JVA mitbringen. Eingekleidet wird er vor Ort. Als Lektüre hat Pollmann „Civil Disobedience – Ziviler Ungehorsam“ von Henry David Thoreau dabei. Das Manuskript, an dem er während seines Gefängnisaufenthalts arbeiten wird, hat mit zivilem Ungehorsam nichts zu tun. Es gehe darin um seine unglückliche Liebesbeziehung zu Stuttgart.

Die schwere Stahltür der JVA Rottenburg schiebt sich hinter ihm mit einem dezenten „Plopp“ ins Schloss.