crime scene: Etwas diffus Bedrohliches in einer Berghütte auf Island
Gespenster sind oft böse. Das ist verständlich, haben sie doch deswegen zu Gespenstern werden müssen, weil ihr Tod in der Regel plötzlich, unerwartet und/oder gewaltsam kam, und weil oft jemand anderes daran schuld war. Denn noch böser als die Untoten können die Lebenden sein. Von beidem, der Bosheit der Lebendigen und dem Treiben der Geister, erzählt die isländische Bestsellerautorin Yrsa Sigurdardottir in ihrem Roman „Schnee“, einem Stand-alone-Titel, der keiner ihrer Erfolgsreihen angehört und dessen Charaktere keine Verbrechen aufklären, sondern vor allem damit beschäftigt sind, sich ihrer Angst vor dem Unerklärlichen zu stellen.
Polizisten gibt es in diesem Roman nur ganz am Rande; zum Beispiel in Gestalt von Geiri, dem Ehemann von Jóhanna, einer der Hauptfiguren. Jóhanna, die erst seit ihrer Heirat im kleinen Ort Höfn am Rande des Hochlands lebt und in der Qualitätskontrolle einer Fischfabrik arbeitet, hat sich der sozialen Kontakte wegen dem freiwilligen Rettungsdienst angeschlossen. Es ist Winter, Schneestürme fegen über das Land, und kein vernünftiger Mensch würde sich freiwillig hinaus ins Hochland wagen. Und doch finden Jóhanna und ihre Kollegen nahe einer einsam gelegenen Hütte eine Frauenleiche – und Anzeichen dafür, dass die Frau nicht allein unterwegs war.
Während Jóhanna sich schwer damit tut, das dramatische Geschehen zu verarbeiten, und sogar bei sich zu Hause plötzlich unheimliche Dinge wahrnimmt, erzählt Yrsa Sigurdardottir parallel zwei weitere Schicksale: zum einen die Geschichte von Hjörvar, auch er neu hinzugezogen in Höfn, der als Kind im selben Haus wohnte wie Jóhanna jetzt und seit einiger Zeit in einer abgelegenen Radarstation arbeitet. Und zum anderen einen Rückblick: Aus der Perspektive einer jungen Frau aus Rejkjavík erleben wir mit, wie fünf junge Menschen bei unmenschlichen Wetterbedingungen ins Hochland aufbrechen. Aus reiner Abenteuerlust haben zwei Paare aus der Stadt sich einem flüchtigen Bekannten angeschlossen, der erzählt hat, dass er für ein Forschungsprojekt eine schwer zugängliche Messstation im Hochland ablesen müsse. Doch bereits in der Berghütte, in der die Gruppe während der ersten Nacht Zuflucht findet, spürt die sensible Dröfn, dass etwas diffus Bedrohliches ganz in der Nähe ist …
Allen Erzählsträngen ist eines gemeinsam: Ihre ProtagonistInnen haben Erscheinungen, die nicht so leicht rational erklärbar sind. Sigurdardottir verzahnt die drei Geschichten sehr geschickt, und als versierte Spannungsautorin weiß sie genau, mit welchen narrativen Portionen sie ihr Lesepublikum füttern muss, damit es bei der Stange bleibt. Ja, die Story ist spannend, und ja, man will dieses Buch zu Ende lesen, weil man doch wissen muss, was hinter dem geisterhaften Treiben steckt. Doch fühlt man sich weder einigermaßen heftig angegruselt (da sind zum Beispiel die „Lockwood & Co.“-Jugendbücher von Jonathan Stroud von ganz anderem Kaliber), noch nimmt man die Geistererscheinungen als Ausgeburt der überhitzten Fantasie allzu sensibler Charaktere wahr.
Intendiert – und angelegt ist diese Intention durchaus – hatte die Autorin womöglich eine durchgehende Uneindeutigkeit, die ihre LeserInnen ebenso verunsichern sollte wie die ProtagonistInnen selbst. Aber dann muss sie doch sehr schnell der Versuchung erlegen sein, einfach eine recht gradlinige, um nicht zu sagen: plumpe Geistergeschichte zu schreiben. Aber weil, siehe oben, Geister eben oft nur zu solchen wurden, da sie gewaltsam ums Leben gebracht worden sind, gibt es denn doch noch ein paar recht überraschende Erklärungen. Die richtig gefährlichen Bösen sind jedenfalls auch hier unter den Lebenden zu suchen.
Yrsa Sigurdardottir:
„Schnee“. Aus dem Isländischen von Tina Flecken. btb Verlag, München 2022, 352 Seiten, 17 Euro
Katharina Granzin
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