Eine Totale sagt mehr als 1.000 Close-ups

In „Melegin Düsüsü – Angel’s Fall“, dem zweiten Spielfilm des türkischen Regisseurs Semih Kaplanoglu, lebt eine junge Frau schon lange mit der Trauer. Davon erzählen viele ruhige Tableaus. Die Kamera verhält sich ähnlich starr wie die Protagonisten, und ihre Anspannung geht auf die Einstellung über

VON ANKE LEWEKE

Es ist immer noch die gute alte Totale, in der die Geschichte, die Figuren und die Dinge am besten zu sich kommen. Und auch der Zuschauer. Die Totale gibt uns die Freiheit zuzuschauen, sodass wir uns den Rest selbst denken können. Die Totale belästigt uns nicht, aber wenn wir möchten, lässt sie uns an ihrer Welt teilhaben. In Semih Kaplanoglus zweitem Spielfilm „Melegin Düsüsü – Angel’s Fall“, der seit gestern leider nur mit einer Kopie im Berliner fsk läuft, scheint sie sogar der einzig angemessene Rahmen für die Trauer der jungen Heldin. Weil sie den Raum bietet, in dem sich ihr Schmerz zu seinem ganzen Ausmaß ausdehnen kann.

Mit einer Art Ouvertüre setzt der Film ein. Mitten im Wald findet ein rätselhaftes Ritual zur Wunscherfüllung statt. An einem heiligen Ort versucht Zeynep (Tülin Özen) einen goldenen Faden zu spannen. Doch immer wieder wird er reißen, immer hektischer und verzweifelter werden ihre Versuche. Es gibt keine Musik, man hört nur das Keuchen der jungen Frau. Was wünscht sie sich? Was treibt sie an? Warum ist sie so außer Atem? Mit diesen Fragen geht man in den Film hinein.

Dass Zeynep schon lange mit der Trauer lebt, davon erzählen dann die ersten ruhigen Tableaus. Wir sehen die Heldin nach der Arbeit im Zug sitzen, erschöpft und verschlossen ist ihr Gesicht. Karg und trostlos wirkt die Wohnung, die sie sich mit ihrem Vater teilt. Von den wenigen Gegenständen geht eine seltsame Tristesse aus. Etwa von dem Radio, das auf dem Küchentisch steht und nie angeschaltet wird. Auch den kleinen Walkman, den Angel von ihrem Vater geschenkt bekommt, wird sie nie benutzen. Es fehlen die Batterien, niemand wird welche nachkaufen.

Dass es um das Verhältnis von Vater und Tochter in dem Film „Melegin Düsüsü – Angel’s Fall“ nicht gut steht, wissen wir schon nach dem ersten Abendessen. Mit gesenktem Kopf nehmen die beiden die Mahlzeit zu sich, ihre Blicke werden sich nicht einmal kreuzen. Wieder ist es die Totale, die uns teilhaben lässt. Die Kamera verhält sich ähnlich starr wie die Protagonisten, ihre Anspannung geht auf die Einstellung über.

Nur selten wird uns Zeynep direkt anschauen. Meistens sieht man nur ihr Profil. Das hat Sinn, denn sie wird von einem Schmerz verfolgt, der sich kaum mitteilen lässt. Deshalb hat sie sich schon lange von ihrer Umgebung abgewendet. Auch auf die zaghaften Annäherungsversuche eines Arbeitskollegen lässt sie sich kaum ein. Er arbeitet als Page und sie als Zimmermädchen in einem großen, anonymen Hotelkasten. Wenn er sie zum Bahnhof bringt und für den nächsten Tag ins Kino einlädt, reagiert sie derart schroff, dass sich der Junge abwendet. In diesem Moment nimmt sich die Kamera die Zeit, Zeyneps Gesichtsausdruck einzufangen. Auch ihr scheint die Vehemenz ihrer Ablehnung Leid zu tun. Ein kleines Zeichen? Erleichtert registriert man, dass auch sie etwas für den schüchternen Mann empfindet.

Auch wenn der Film von Zeyneps Unglück zu erzählen beginnt, wahrt er die Distanz und Diskretion der Totalen. Die junge Frau geht zu Bett und schaltet das Licht aus. Wenig später folgt ihr der Vater. Alles ist gesagt.

Es ist ein Koffer, der Zeynep zum Befreiungsschlag ausholen lässt. Sie bekommt die schönen Kleider einer jungen Frau vermacht, die bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Wenn sie den Koffer hinter sich herzieht, arbeitet der Film zum ersten Mal mit Musik. Wir hören Edvard Griegs „Herzwunden“. Seltsam überhöht wirkt die Szenerie. Und der Film bekommt plötzlich etwas Mythisches.

Wieder braucht er nur ein Tableau, um uns über eine Veränderung in Zeyneps Wesen ins Bild zu setzen. Vielleicht fällt dieses Bild ein wenig zu plakativ aus. Dennoch ist es schön. Angel sitzt in einem roten Kleid in der Wohnung und scheint zum ersten Mal eins mit sich selbst.

„Melegin Düsüsü – Angel’s Fall“, Regie: Semih Kaplanoglu. Mit Tülin Ozen, Budak Akalin u. a., Türkei/Griechenland 2004, 97 Min.