DIE 66. FILMFESTSPIELE IN VENEDIG
Im Zirkus des Erzählens

In einer kurzen Erzählung des jungen Peter Handke steht ein Vater wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht. Er spielte mit seinem Kind, indem er es in die Luft warf. Als er es auffangen wollte, glitt es ihm durch die Hände, fiel zu Boden und war tot. Der Richter versteht nicht, wie dies geschehen konnte; er fordert den Vater auf, es ihm zu erklären. Der Vater bittet sein zweites Kind, ihm zu Demonstrationszwecken zur Verfügung zu stehen. Er wirft das Kind in die Luft, es gleitet ihm durch die Hände, es fällt zu Boden und ist tot.

Es ist ein Grundmotiv des Erzählens: Eine traumatische Erfahrung muss wiederholt werden, damit man ihr einen anderen Ausgang bescheren und sich dadurch von ihr befreien kann. Bei Handke zeitigt das fatale Folgen; in den meisten Filmen Alfred Hitchcocks geht es gut aus, da das Trauma in der Wiederholung gebannt wird. Was bei Freud das mühsame, langwierige Durcharbeiten des inneren Konflikts ist, schnurrt in der Fiktion zu einem einzigen, sinnfälligen Ereignis zusammen – in „Notorious“ etwa fährt Cary Grant auf Skiern einen steilen Berghang hinab, beim ersten Mal mit tödlichem, beim zweiten Mal mit heilsamem Ausgang.

Auch in Jacques Rivettes Wettbewerbsbeitrag „36 vues du Pic Saint Loup“ („36 Ansichten des Pic Saint Loup“) geht es um eine solche Wiederholung, nur weiß man lange Zeit nicht genau, worin die traumatische Erfahrung besteht. Man weiß nur, dass die Hauptfigur Kate (Jane Birkin) schwer an einer Last aus der Vergangenheit trägt. 15 Jahre war sie fort, jetzt, da ihr Vater, ein Zirkusimpresario, gestorben ist, ist sie zu den Artisten zurückgekehrt. Für ein paar Tage geht sie mit ihnen auf Tour durch die französischen Meeralpen.

Es ist Sommer, die Dörfer liegen idyllisch im Schatten der Platanen, die Kamera sieht sich an den felsigen Gipfeln und Hochebenen satt. Die Wohnwagen mögen 40, wenn nicht 50 Jahre alt sein, das Zirkuszelt ist winzig, die Nummern der Artisten schleppen sich, und die Ränge sind an jedem Abend fast leer. An Kates Fersen hängt sich ein Fremder, Vittorio (Sergio Castellito), er besucht jede Vorstellung, über die Auftaktnummer der Clowns lacht er schon, bevor sie lustig wird. Ungefragt gibt er Ratschläge, etwa wie die Teller, die im Verlauf der Nummer kaputtgehen, besser zur Geltung kommen: Man müsse die Wertschätzung fürs Geschirr offensiver zeigen. Von einem Unfall, der sich vor 15 Jahren zutrug, ist immer wieder die Rede. In einer Szene steht Kate auf einem Friedhof vor einem verwitterten Grabstein und sagt dem Toten, sie habe nie wieder einen Mann so geliebt wie ihn.

Rivette, mittlerweile 81 Jahre alt, setzt all dies ohne große Emphase und Dramatik, dafür mit mildem Humor und einer Vorliebe für theatralische Auflösungen in Szene. Für Letzteres ist das Zirkuszelt wie geschaffen, seine blauen Planen erzeugen künstliche Farbeffekte und perfekte Gelegenheiten für die Auftritte und Abgänge der Figuren.

„36 vues du Pic Saint Loup“ ist ein kleiner Film, ein wenig altmodisch wie der Wanderzirkus, aber gerade darin rund. Um das traumatische Erlebnis schleicht er herum, er lässt von ihm ab, rührt es wieder an und wirft es dann fort wie eine Katze, die mit der Maus spielt, statt sie zu fressen. Gegen Ende beißt der Film dann doch zu: Der Feuerschlucker lässt eine Peitsche kurz vor Kate niedergehen; das Leder zerschneidet eine Zeitungsseite, vor 15 Jahren zerschnitt es eine Kehle. Die Zeitung Le Canard enchaîné ist sicherlich nicht zufällig ein Satireblatt, trotzdem glaubt man Kates Erschütterung blind.

CRISTINA NORD