Im Ansatz moderne Tragödie

PLURALISMUS DER ERZÄHLFORMEN Joachim Lux ist der neue Intendant am Thalia Theater Hamburg. Hamlet und die Kennedys sind die ersten Helden der Spielzeit

Aufstieg und Tod von JFK, Bobby und Edward werden zur Anekdote der Geschichte

VON SIMONE KAEMPF

Der Anfang ist gemacht, die ersten Neustarts laufen. An sieben der großen deutschsprachigen Schauspielhäuser wechseln in diesen Wochen die Intendanten. Neue Namen kursieren, alte treten in veränderten Paarungen auf. Die Hoffnung auf Bewegung ist groß. Aber die neuen Spielpläne ähneln sich auch. Die Regisseure, ob schon erfolgreich oder noch als Nachwuchs gehandelt, arbeiten durch die Bank an mehreren Häusern. Von langfristiger Zusammenarbeit, fester Bindung, begleitenden Prozessen ist zwar überall die Rede. Das künstlerische Profil aber lässt sich nirgendwo mehr durch eine einzige Handschrift bestimmen, zumindest nicht erfolgreich. Vielfalt ist nötig, um ein breites Publikum anzusprechen.

Das Thalia Theater Hamburg ist mit genau diesem Prinzip gestartet: drei Abende mit drei völlig unterschiedlichen Ideen von zeitgenössisch-realistischem Theater. Dabei hat der neue Intendant Joachim Lux den Pluralismus der Erzählformen gar nicht explizit angekündigt. Die Suche nach innerer und äußerer Heimat, nach kultureller Identität und den Blick auf das Fremde will Lux zum Zentrum der Arbeit machen. Davon ist in den ersten drei Inszenierungen noch nicht allzu viel zu spüren. Auch nicht in Luk Percevals aufwändigem Rechercheprojekt „The truth about the Kennedys“, das einen großen Bogen schlägt von der Auswanderung des irischen Bauern Patrick Kennedy im Jahr 1849 bis zum Tod Edward Kennedys vor zwei Wochen.

Aus einem reichen Bilderreservoir schöpft Perceval: Zeitungsstapel türmen sich beeindruckend im Bühnenhintergrund bis zur Decke und bilden die Leinwand für die bekannten Medien- und unbekannten Kennedy-Familienfotos. Davor gruppiert sich die Familie in Cocktailpartystimmung. Die Männer tragen Anzüge, die Frauen ärmellose Cocktailkleider – alle bis auf Rose, die gottesfürchtige Familienmutter in der hochgeschlossenen Bluse, deren strenge Erziehung den Söhnen den Weg bis ins Präsidentenamt genauso bahnt wie der Machthunger des Familienvaters Joe senior.

Die Mutter eisenhart

Bibiana Beglau spielt diese Rose in Hochspannung, mit stetigem Familienlächeln und doch geschmeidig auf der Lauer, so eisenhart autoritär, dass kleinste Blicke zur Zurechtweisung reichen. Beglaus Rose und Hans Kremer als Patriarch Joe sind die offensichtlichen Herrscher der Familie – und der Inszenierung.

Aufstieg und Tod der Söhne JFK, Bobby und Edward erzählen sich aus ihrer Sicht nur noch wie eine Anekdote, und das ist ein Problem des Abends, der trotz seiner erzählerischen Schlichtheit überfrachtet ist: im Ansatz moderne Tragödie, aber auch viel zu viel retrospektive Geschichtsstunde. Familiendefekte werden offengelegt, die kriminellen Machenschaften der Politik genauso erzählt wie die Dauerhaftigkeit der Medienbilder.

Interessant wäre das wechselseitige In-den-Blick-Nehmen der Kennedys und der Kennedy-Bilder, der Sicht von außen und aus dem Inneren der Familie. Aber genau das findet nicht statt.

Laudatio voller Lügen

Die Verschränkung der Betrachtungsebenen – der Kunstbetrachtung, die zur Selbstbetrachtung wird und umgekehrt – leistet hingegen der Regisseur Kornél Mundruczó, 1975 in Ungarn geboren. Sein „Judasevangelium“ führt (in der Nebenspielstätte Gaußstraße) in eine nachgebaute Dreizimmerwohnung mit wackligen Stehlampen, verknickten Jalousien und fleckigen Tapeten. Der postsozialistische Touch strahlt viel mehr realistische Zeitgenossenschaft aus als Percevals hypermodernes Bildersetting, und man hängt diesem Jonas P. Lang (Tilo Werner) fasziniert an den Lippen, wenn er sein Drama schildert. Jonas ist Regisseur. Ein Preis wurde ihm verliehen für sein Lebenswerk, mit einer Laudatio voller Lügen, und jetzt will er nicht mehr.

Sein Ausstieg zieht das sechsköpfige Ensemble, das sich um ihn schart, in existenzielle Verwirrungen. Das Leben in der Wohnung läuft jetzt ziellos weiter. Gregor gesteht, wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger angezeigt worden zu sein, woraufhin ihn Franziska in Rollerblades verführt. Die Abhängigkeiten und Stimmungslagen wechseln subtil.

Kamerabilder holen das Geschehen aus den anderen beiden Räumen heran, vergrößern das Intime und das Unheimliche, als nachts ein Mord geschieht. Dieser Big-Brother-Blick erklärt zwar nicht, warum sich Jonas selbst die Tat anhängt und unbedingt Schuld auf sich nehmen will. Aber bis dahin geht der Abend mit seiner besonderen Spielsituation beeindruckend über die Grenzen hinweg, die Realität von inszenierter Illusion trennt.

Kornél Mundruczó muss sich dafür nicht dokumentarischer Methoden bedienen, denen in jüngerer Zeit vermehrt der Ruch anhängt, die Realität geformt und getrimmt auf die Bühne zu holen. Was aber passiert, wenn 240 Hamburgern in 80 Kurzauftritten die Bühne für den bekanntesten Hamlet-Monolog überlassen wird, ohne dafür angeleitet, eingeschworen oder animiert zu werden?

240 Hamburger

Der Eröffnungsabend „2beornot2be“ war eine kleine Lehrstunde: ungeformt funktioniert es nicht. Vielleicht haben sich Perceval, verantwortlich für das Konzept, und Joachim Lux etwas Rohes, Authentisches erhofft, das sich mit der Selbstdarstellung schon ergeben werde. Mehr als Laientheater ist nicht herausgekommen. Kein Ablomp also zur Eröffnung des Thalias, aber eine überraschende Mischung mit wechselnden Atmosphären, als sei man jeden Abend in einem anderen Theater. Vielleicht der Grundstein für eine neue erzählerische Bandbreite an diesem Haus.