berliner szenen
: Der genügsame Seneca

Der eine ist 80, der andere 81. Der eine spricht laut, der andere leise. Die beiden Männer verabreden sich regelmäßig im Volkspark. Der Laute beklagt gerade, dass es „ZIBB“ nicht mehr gibt, seine Lieblingssendung im rbb-Fernsehen. Wegen Sparmaßnahmen, aber für das Parkett der Intendantin habe es ja noch gereicht. Ich setze mich sofort weg von den beiden, weil ich in Ruhe lesen will und dabei, schon aus alter Verbundenheit mit dem Sender, keine deprimierenden rbb-Nachrichten gebrauchen kann.

Ich hätte sitzen bleiben können, der Laute beschallt mit seinem Organ auch die nähere Umgebung. Jetzt ist er bei Seneca und dessen Genügsamkeit. Der habe nur eine einzige Kammer mit Bett und Stuhl in einem Schloss bewohnt. War es nicht genau anders herum? Hat Seneca nicht Genügsamkeit gepredigt, aber in Saus und Braus gelebt? Ich muss das später googeln. Der Laute ist jetzt bei Prinz William angelangt. Der Freund schweigt, er interessiert sich nicht für die Erbfolge im Hause Windsor.

Jetzt wird es privat. Nach seiner Erfahrung, resümiert der Laute, wollen Männer alles beim Alten lassen, während Frauen immer wieder Abwechslung brauchen. Besonders bei der Wohnungseinrichtung, selbst wenn die alten Möbel noch tadellos sind. Wenigstens die Sessel umstellen und die Bilder an anderer Stelle aufhängen, verlangt seine Frau, und jetzt das Unglaubliche: Er soll unter alle Möbel Rollen schrauben, damit sie die auch allein umstellen kann. Weil er sich immer so lange sträube. Wie der Freund das denn finde. Der antwortet nicht, die Augen hält er geschlossen. „Du sagst ja gar nichts, stirbst du gerade?“ – „Nein, ich bin noch bei Seneca. Epistulae morales.“ Es klingt, als zitiere er einen ganzen Abschnitt im lateinischen Original. Schade, dass er so leise spricht.

Claudia Ingenhoven