Senat springt ins Biotop

BUND und Stiftung Naturschutz warnen: Geplante Wohnsiedlung in Kirchdorf Mitte-Nord gefährdet einen einzigartigen Lebensraum. Wilhelmsburger fordern Bildungsoffensive statt Eigenheime

„Ich weiß, wie wichtig Arbeitsplätze sind, aber solche Inseln sollte man erhalten“

von Gernot Knödler

Loki Schmidt war begeistert und bestürzt zugleich: So viele Exemplare des Großen Klappertopfs hatte sie noch nie auf einem Haufen gesehen. Doch diese Pracht steht auf einem der auserkorenen Landeplätze für den Sprung über die Elbe. Auf den ökologisch wertvollen Weiden nördlich der Hochhaussiedlung Kirchdorf-Süd will der Senat Häuschen für 600 Familien bauen lassen. „Ich weiß, wie wichtig Arbeitsplätze sind“, sagt Schmidt, „aber wenn es irgend möglich ist, sollte man solche Inseln in der Großstadt erhalten.“

Der Große Klappertopf ist eigentlich nicht besonders sympathisch. Denn die Blume des Jahres 2005 mit ihrem Büschel gelber Blüten und Blättchen ist ein Halbschmarotzer. Sie zapft die Gräser in ihrer Nachbarschaft an, um sich mit Wasser und Nährsalzen zu versorgen. Mit dieser Eigentümlichkeit kann sie sich nur unter besonderen Bedingungen durchsetzen, etwa auf den wechselfeuchten, extensiv von Pferden beweideten Wiesen in Kirchdorf. Das macht sie zum Symbol für einen Lebensraum, von dem der BUND-Landesvorsitzende Harald Köpke behauptet, dass er „bestimmt in ganz Norddeutschland nicht mehr“ zu finden sei.

Nach Angaben des Vereins Zukunft Elbinsel Wilhelmsburg hat ein Biologe zwischen 2001 und 2003 allein 21 Libellenarten in dem von wasserführenden Gräben durchzogenen Gebiet gefunden. Auf einem Teil des Geländes brüten Kiebitze. Mehr als 50 bedrohte Pflanzenarten seien hier zu finden, darunter der Sumpfkantige Wasserstern, die Gewöhnliche Armleuchteralge und Berchtolds Laichkraut. Eine Untersuchung im Auftrag des Bezirksamtes Harburg war zehn Jahre zuvor zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen.

Damals war es bereits darum gegangen, die Auswirkungen eines Siedlungsbaus in Kirchdorf Mitte-Nord abzuschätzen. Die Gutachter wiesen darauf hin, dass das nur 30 Zentimeter über Normalnull liegende Gebiet großflächig um 85 Zentimeter aufgeschüttet werden müsste und die Häuser möglicherweise auf sehr lange Pfähle zu gründen wären. Beides würde das Bauen hier stark verteuern, glaubt die GAL. „Man sollte diese Flächen liegen lassen und zusammen mit dem Wilhelmsburger Osten langfristig als Natur- und Erholungsraum entwickeln“, findet der Bürgerschaftsabgeordnete Claudius Lieven.

Die Pläne die heute vorbereitet würden, seien nicht vergleichbar mit denen von Anfang der 90er Jahre, argumentiert Oberbaudirektor Jörn Walter. Es sei eine „sehr lockere Bebauung“ vorgesehen. „Empfindliche Bereiche“, zum Beispiel Flächen, auf denen der Klappertopf wachse, würden nicht bebaut. Zur Internationalen Bauausstellung 2013 soll ein Drittel der rund 600 Einfamilienhäuser stehen.

Jörg von Prondzinski vom Verein Zukunft Elbinsel fordert stattdessen die oft beschworene Bildungsoffensive für den Stadtteil ein: „Wenn der Senat Politik für die Stadt machen würde und nicht für die Baulobby, dann würde er die Gründe für den Wegzug junger Familien beheben, anstatt mit den Feuchtwiesen eine besondere Qualität der Elbinsel zu vernichten“, sagt er.