berliner szenen: Er ist zu schlapp, ich auch
Es ist sehr heiß. Ich trage ein feuchtes Handtuch als Turban und fahre sehr langsam. Die zwei gewohnten Teststationen sind gerade zu, so dauert es anderthalb Stunden, bis ich im Pflegeheim bin. Durch die Gardinen scheint die Nachmittagssonne gedämpft auf M.s Gesicht. Er trägt ein blaues T-Shirt; die Wangen sind leicht gerötet, der Fernseher steht auf einem Che-Guevara-Banner, das D. und ich vor 30 Jahren im Revolutionsmuseum von Havanna gekauft hatten, und ist an wie immer. Zeitungen liegen ausgebreitet auf der Bettdecke. M. trägt zwei alte Brillen übereinander, das hatte er sich vor sieben Jahren, noch in einem anderen Leben, angewöhnt. An seiner Nase ist Penatencreme, weil die untere Brille da gedrückt hatte. Er hatte nicht erwartet, mich heute zu sehen, ist aber auch nicht überrascht. Ich hatte mich angekündigt, aber das war irgendwie nicht durchgedrungen. So hatte ihn die Frühschicht nicht mobilisiert.
Wir dämmern so dahin in der Hitze, reden über die vergangene Tage, gemeinsame Freunde, besprechen die Themen der Zeit, Putin, Ukraine, Taiwan, Nancy Pelosi, Klimawandel. Er wundert sich, dass er früher Maoist gewesen war. Er ist so gut drauf wie lange nicht mehr. Gestern sei er im Rollstuhl gewesen, obgleich kein Besuch da gewesen war, und habe mit Mitbewohnern geredet und seine Vorurteile revidiert. Es ist nicht einfach, der jüngste Pflegeheimbewohner zu sein. Ich frage, ob er Lust hat, Schach zu spielen. Er ist zu schlapp, ich eigentlich auch. Eine Weile gucken wir schweigend Fernsehen. Im Radio des abwesenden Zimmernachbarn läuft „Girls just want to have fun“. Ich freu mich, dass M. das Lied gefällt, und stelle lauter. Danach wieder leiser. Als „Blinded by the Light“ von Manfred Mann läuft, stell ich wieder lauter, ich hatte das Lied als Teenager geliebt.
Detlef Kuhlbrodt
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