Fuchteln ist falsch! Glück erfährt, wer Insektengnade kennt
: Sonnenbad mit Liebesgift

LIEBLING DER MASSEN

ULI HANNEMANN

Das Wespenaufkommen hier am Badesee ist schon gewaltig. Mit der Frequenz eines Maschinengewehrs aus dem Ersten Weltkrieg werden kleine Kinder gestochen. Das nie verebbende Geheul, in das links und rechts von mir kanonartig neue Stimmen einfallen, wirkt einen kakophonischen Klangteppich – die Stimmlage ist Kindersopran, die Tonart fies-Moll, der Text elegisch. Natürlich nerven die Tiere auch mich. Sie wimmeln in solchen Massen auf mir herum, dass mein Arm zeitweise der vollbesetzten Südtribüne des Dortmunder Westfalenstadions gleicht.

„Dreckige Scheißviecher!“, will ich schon die Wespen mit dem Notizbuch, in dem ich gerade die Urversion dieses Textes notiere, totschlagen. Danach die zerquetschten Leichen ganz vorsichtig an den Flügeln hochheben, weil sie ja eine Weile lang noch stechen können, und sie in weitem Bogen ins Gebüsch schmeißen. Doch ich besinne mich beizeiten. Wie ungerecht das wäre. Wo bleibt die Achtung vor dem Geschöpf? Geschweige denn, dass ich mich noch einmal „Tierfreund“ nennen dürfte.

So wie jener namhafte Autor, in dessen Garten ich mal zum Kuchenessen war. Ständig trug er zwei junge Kätzchen mit sich herum, die er ohne Unterlass hätschelte und koste. „Ein Tierfreund“, war man geneigt zu denken. Die reichlich vorhandenen Septemberwespen, die träge auf dem Pflaumenkuchen herumkrochen, zerdrückte dieser saubere Tierfreund hingegen mit diabolischer Freude einzeln mit der Kuchengabel und reihte die toten Tiere, bald dreißig an der Zahl, mit akribischem Stolz feinsäuberlich neben dem Teller auf, ehe er sich erneut daran machte, wie ein fünfjähriges Mädchen seine Katzenkinder zu herzen.

Probe aufs Exempel

Ein jeder sollte ruhig mal die Probe aufs Exempel machen und die Sache einfach umdrehen. „Ihr niedlichen Scheißviecher“ schreien und die Kätzchen erschlagen. Anschließend die zerdrückten Körper vorsichtig an den Öhrchen hochheben, weil sie ja eine Weile lang noch maunzen können, und sie mit Schmackes in die Büsche schleudern. Und nun einmal ganz tief in sich hineinblicken: Na, wie fühlt sich das an? Gleich gut oder schlecht wie bei den Wespen, dann ist alles im Lot; anderenfalls jedoch sollte man das eigene Wertesystem schleunigst einer gründlichen Prüfung unterziehen.

Von bigotten Tendenzen bin ich selber nicht frei. Doch als vernunftbegabtes Wesen kann ich mein Verhalten reflektieren und korrigieren. „Lasst euch nieder, Freunde“, rufe ich daher den Wespen zu, „und tafelt mit mir – es ist genug für alle da!“ Neugierig schnuppern sie an mir herum. Kluge, kleine Teufelchen! Fast scheinen sie sich mehr für mich zu interessieren als für mein Eis. Ich fühle mich irgendwie geschmeichelt.

Eine setzt sich gar auf meine Lippen. Wie anmutig sie eigentlich ist, mit ihrem schlanken Körper in dem gelbschwarz geringelten Kleidchen, mit ihrer ausgeprägten Taille. Sie kitzelt mich mit ihren Fühlern. Der Kuss der Wespenfrau. Langsam fühle ich Erregung in mir hochsteigen. Und auch sie scheint mehr als bereit, denn sie setzt sich auf meinen Arm und spreizt die Beinchen. Mit dem Finger penetriere ich vorsichtig ihre Fühler, reibe sanft an den Beißerchen, massiere ihre Taille.

Ihr Hinterteil zittert und ihr erigierter Stachel nähert sich meiner Haut. Auf einmal bin ich Frau und sie ist Mann, sie ist Mensch und ich bin Insekt, wir können die Rollen beliebig tauschen, sind frei, lassen uns treiben, schweben auf einer Wolke der Sinnlichkeit. Langsam dringt sie in mich ein, zuckend pumpt sie ihr Gift in meinen Arm, kommt offensichtlich zum Höhepunkt. Ich selbst muss mir Mühe geben, nicht laut zu schreien. Schließlich gehöre ich nicht zur Generation Youporn, die ihre Sexualität um jeden Preis öffentlich machen will – es stehen ohnehin schon genug Kinder um uns herum. Mit offenen Mündern haben sie einen Moment lang das Geheul eingestellt.

„Es ist nichts“, wiegele ich ab, „nicht, was ihr denkt“, und wische mit einer Handbewegung die Wespe vom Arm, die ihr Ringelkleid mit beleidigender Beiläufigkeit wieder herunterzieht, gerade so, als wäre nichts zwischen uns gewesen, und geht. Irgendwo klappt eine Tür. Ihre Telefonnummer hat sie nicht hinterlassen, wozu auch? Ich spüre Leere und Schmerz.