Vor Abschiebung bewahrt: Auf dem Weg zum Azubi
Nach zwei Härtefallanträgen kann der schwerbehinderte Raheel Afzal in Berlin bleiben. Doch für Geflüchtete mit Behinderung gibt es weiter hohe Hürden.
Afzal scheint erleichtert an diesem Juni-Mittag in Berlin-Oberschönweide. Er lächelt zur Begrüßung, wirkt entspannt und aufgeschlossen. Er sitzt auf der Terrasse der Stephanus-Werkstätten, auf dem Holzstuhl neben ihm sitzt die Sozialarbeiterin Anja Schlorke. Seit über einem Jahr arbeitet Afzal nun in der behindertengerechten Werkstatt. Der Unterschied zum vergangenen Jahr: Damals bangte der mittlerweile 34-Jährige Pakistani noch um seine Duldung. Zwei Härtefallanträge, zahlreiche Briefe an die Politik und einen Regierungswechsel hat es gebraucht, bis Afzal Anfang des Jahres endlich aufatmen konnte: Er hat einen zunächst befristeten Aufenthaltstitel bekommen und darf in Deutschland bleiben.
„Ich bin jetzt sehr glücklich, ja“, sagt Afzal und lächelt. Beim letzten Treffen mit der taz im vergangenen Oktober war er von Freude noch weit entfernt: Sein Blick war streng, er wirkte zurückgezogen. Die Sorgenfalten auf seinem Gesicht konnte der etwas längere Bart nur zum Teil verstecken. Der Aufenthaltstitel hat sich aber nicht nur auf Afzals Lebensfreude ausgewirkt, sondern auch auf sein Deutsch – denn inzwischen hat er einen behindertengerechten Deutschkurs besucht.
„Endlich wird sich richtig um Raheels Bedürfnisse gekümmert“, sagt Schlorke. Raheel Afzal hat Glück – und einen großen Unterstützerkreis. Innensenatorin Iris Spranger (SPD) hatte im zweiten Härtefallverfahren entschieden, ihm ein humanitäres Bleiberecht zu gewähren. Zuvor hatte der ehemalige Innensenator Andreas Geisel (SPD) die Empfehlung der Härtefallkommission auf ein humanitäres Bleiberecht abgelehnt. Als Grund für die nun positive Entscheidung nannte die aktuelle Senatsverwaltung den „neuen Sachverhalt und die dazugewonnenen Erkenntnisse“. Aus Datenschutzgründen könne man dazu keine genaueren Angaben machen.
Es fehlen Strukturen für behinderte Flüchtlinge
Viele behinderte Flüchtlinge haben dieses Glück allerdings nicht und werden von der Politik übersehen – es fehlen Strukturen, die ihnen behindertengerechte Sprachkurse vermitteln und ihnen ihren Fähigkeiten entsprechende Arbeiten suchen. „Menschen mit schwerwiegenden körperlichen, psychischen und seelischen Beeinträchtigungen vorzuwerfen, sie hätten nicht genug ‚Integrationsleistungen‘ erbracht, ist zynisch“, heißt es vom Flüchtlingsrat, der Afzal im letzten Jahr bereits begleitet hatte.
Für viele Flüchtlinge mit humanitären Härten könnte die neue Berliner Landesregierung ein Hoffnungsträger sein. Schließlich heißt es auch im rot-grün-roten Koalitionsvertrag, dass bei Entscheidungen über Kommissionsersuchen humanitäre Aspekte wie gesundheitliche Einschränkungen, Alter, Behinderung und Pflege von Kindern oder Angehörigen im Zuge der Einzelfallprüfung besonders zu berücksichtigen sind.
In den vergangenen Monaten hat es laut Flüchtlingsrat zwar bereits einige positive Entscheidungen über Anträge von Menschen mit Behinderung oder chronischen Krankheiten gegeben – ob die Politik der neuen Regierung aber wirklich zu einem Paradigmenwechsel im Umgang mit behinderten Flüchtlingen führt, wird sich wohl erst in den kommenden Jahren zeigen.
Auf Nachfrage der taz nach konkreten Plänen für den künftigen Umgang mit behinderten Flüchtlingen verweist die Senatsverwaltung lediglich auf den Koalitionsvertrag, in dem die Zusammenarbeit mit der Härtefallkommission und die Beachtung humanitärer Aspekte verankert seien.
Forderung: Rechtzeitig auf Bedarfe eingehen
2021 wurden 269 Anträge von den Mitgliedern der Härtefallkommission gestellt. Allerdings führt die Senatsverwaltung keine eigene Statistik dazu, wie viele davon von und für behinderte Flüchtlinge kamen und wie viele davon letztendlich positiv entschieden wurden. Der Flüchtlingsrat wünscht sich, dass geflüchtete Menschen mit Behinderung oder chronischen Krankheiten frühzeitig und systematisch als solche identifiziert werden, damit – im Gegensatz zu Raheel Afzals Fall – rechtzeitig auf ihre besonderen Bedarfe eingegangen werden kann. „Trotz klarer europarechtlicher Vorgaben fehlt in Berlin nach wie vor ein solcher verbindlicher Identifizierungsmechanismus“, sagt der Flüchtlingsrat.
Für die Berliner Flüchtlingspolitik ist Sprangers positive Entscheidung also zunächst ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, für Afzal und seine Unterstützer aber ein großer Erfolg. Er möchte sich nun sorgenfrei um seine Zukunft in Berlin kümmern. Seit einem Jahr arbeitet er bei den Stephanus-Werkstätten als Praktikant – ohne einen Cent Vergütung. „Er kommt trotzdem jeden Tag motiviert hierher und hat Spaß bei der Arbeit“, sagt Schlorke.
Die Aufenthaltsgenehmigung möchte Afzal nutzen, um so schnell wie möglich eine Ausbildung bei den Stephanus-Werkstätten zu beginnen. Mit der neu gewonnenen Lebensfreude möchte er auf dem ersten Arbeitsmarkt starten und jedem Tag mit demselben Lächeln zur Arbeit gehen, wie er es jetzt schon bei den Stephanus-Werkstätten tut.
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