brief des tages
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Antisemitismus verfestigt

„Festhalten an Vorurteilen“, taz vom 8. 7. 22

Als Opfer der zweiten Generation des li­tauischen Holocaust und Mutter der dritten Generation staune ich häufig über das merkwürdige Verständnis von Aufarbeitung der Schrecken des Antisemitismus. Kinder und Enkel aus Täterfamilien verwenden die kulturell oder geschichtlich-politisch ausgerichtete Verarbeitung des Holocaust zur persönlichen Therapie und schänden die Betroffenen ein weiteres Mal. Gefangen in ihrem Selbsthass, ganz und gar mit sich beschäftigt, vergessen sie, die Nachkommen zu fragen, was diese sich wünschen.

Diese Anmaßung führt oft zu politischen Korrekturen, die, jeder ahnt es, nicht dem Inhalt dienen, sondern dem Ansehen einzelner Personen oder Organisationen. Die beinahe hysterische Verteidigung des Rechts und der Pflicht zur Aufarbeitung durch die Nachfahren von mitbeteiligten Personen am Schrecken des Holocaust führt zurück zur Festigung antisemitischer Grundhaltungen – in Deutschland und der Welt. Nur ein echter Prozess der Auseinandersetzung, der Scham, Schuld und Vergebung thematisiert, könnte zu einer neuen Grundhaltung gemeinsamer gesellschaftlicher Entwicklung führen.

Bettina Greb-Kohlstedt, Hannover