DIE 66. FILMFESTSPIELE VON VENEDIG

Roter Teppich für die Politik

Alessandra Mussolini zieht vor Gericht, weil ein rumänischer Spielfilm, der in der Orizzonti-Sektion des Festivals läuft, in ihren Augen ihren Großvater Benito Mussolini diffamiert. In „Francesca“ (Regie: Bobby Paunescu) geht es um rumänische Einwanderer in Italien – und vor allem darum, wie schlecht sie behandelt werden. In einer Szene bezeichnet eine der Figuren Mussolini als „Schlampe“. Die Enkelin des Diktators stört sich also nicht an einer Aussage des Films, sondern an der Rede einer fiktiven Figur.

Nicht auszudenken, welche Möglichkeiten zur Zensur sich eröffneten, setzte sie sich vor Gericht durch. Zwei öffentliche Vorführungen in einem Kino im Stadtteil Cannaregio wurden abgesagt, die Vorführungen auf dem Lido fanden statt. Im Oktober soll der Film in die italienischen Kinos kommen. Domenico Procacci von Fandango, dem Verleiher, scherzte gegenüber dem Branchenblatt Variety“: „Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass wir das Wort ‚Schlampe‘ mit ‚Heiliger‘ synchronisieren.“

Mit Politik polarisieren

Dass ein großes Filmfestival von politischen Scharmützeln begleitet wird, ist nichts Neues; neu ist in diesen Tagen, wie oft dies geschieht. Als im August in Melbourne ein Film über die uigurische Oppositionspolitikerin Rebiya Kadeer laufen sollte, versuchte die chinesische Regierung dies zu verhindern. Hacker blockierten die Website des Festivals, und chinesische Regisseure, unter ihnen Jia Zhang-Ke, zogen ihre Filme zurück.

In Toronto protestierten vor wenigen Tagen Intellektuelle und Filmemacher gegen die Programmschiene „City to City“, die in diesem Jahr Filme aus und über Tel Aviv zeigt. Naomi Klein, Ken Loach, Jane Fonda und andere beteuerten, nichts gegen die einzelnen israelischen Regisseure zu haben, wohl aber gegen das, was sie als Komplizenschaft des Festivals mit der „israelischen Propagandamaschine“ werteten.

Am Lido genoss Hugo Chávez am Montagnachmittag einen Auftritt auf dem Roten Teppich. Unter hohen Sicherheitsvorkehrungen und dem Jubel von mehreren hundert Schaulustigen, von denen einige „Presidente, Presidente“ skandierten, betrat er die Sala Grande. Chávez begleitete Oliver Stone, dessen Dokumentarfilm „South of the Border“ außer Konkurrenz läuft.

Stone porträtiert darin mehrere linke Regierungschefs in Lateinamerika. Mit Evo Morales kaut er Cocablätter in La Paz, in Buenos Aires fragt er Cristina Kirchner, wie viel Schuhe sie besitze (was sie scharf zurückweist: „Männer bekommen eine solche Frage nie zu hören!“), mit Nestor Kirchner spricht er darüber, wie es sich anfühlt, Bush getrotzt zu haben, und auch Rafael Correa aus Ecuador, Luiz Inácio da Silva aus Brasilien und Raul Castro aus Cuba haben einen Auftritt.

Vom Volk geliebt

Im Mittelpunkt freilich steht Chávez, den Stone als demokratisch gewählten, vom venezolanischen Volk innig geliebten, starken Kämpfer wider die neoliberale Politik von Weltwährungsfond und Weltbank beschreibt. „South of the Border“ versteht sich als Gegengewicht zu US-amerikanischen Medien und deren Tendenz, die linken Politiker Lateinamerikas zu diffamieren.

Zu sehen, wie selbstverständlich die Nachrichtensprecher von CNN oder Fox News Chávez als Diktator bezeichnen, ist in der Tat frappierend. Zugleich ist Stones Film in der Wahl der Mittel fahrig wie eine TV-Reportage, in der Aussage nicht viel mehr als Gegenpropaganda. Je mehr sich der Regisseur an Chávez und die anderen Regierungschefs anbiedert, umso weniger kommt zum Vorschein, was an deren Politik ambivalent ist. Kein Wort über die Autonomiebestrebungen im bolivianischen Tiefland, kein – ernsthaftes – Wort über Chávez’ Faible für Ahmadinedschad, kein Wort darüber, wie der argentinische Peronismus demokratische Strukturen untergräbt.

Gut-Böse-Schemata

Wer darüber klagt, dass Filmfestivals von Leuten wie Alessandra Mussolini drangsaliert werden, sollte nicht vergessen, dass die Festivals selbst ihrer Politisierung zuarbeiten, indem sie Filme wie Michael Moores „Capitalism: A Love Affair“ oder Oliver Stones „South of the Border“ so prominent ins Programm nehmen. Das liefert laute Statements, verlässliche Gut-Böse-Schemata und ein Spektakel, das Politik und Celebrity verquickt. Der Preis ist die Freiheit, sich keiner Seite zuzuschlagen. Oder: überhaupt erst einmal nachzudenken.

CRISTINA NORD