Geschichtsunterricht mit Folgen

In Osterholz-Scharmbeck wollen Schüler einen Weg nach einem 17-jährigen Deserteur benennen. Der „Kurt-Albrecht-Weg“ wäre der erste in Deutschland, der an einen Fahnenflüchtigen erinnert. Der Stadtrat wird dem Antrag wohl zustimmen

Bremen taz ■ Ulrich Schröder klingt immer noch überrascht. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass wir damit so durchkommen“. Durchkommen mit dem Vorschlag, dem Fußweg an der Bahnlinie hinter den Berufsbildenden Schulen in Osterholz-Scharmbeck einen Namen zu geben. Den von Kurt Albrecht. Einem Deserteur, der am 28. April 1945 als 17-Jähriger hingerichtet wurde. Sollte der Stadtrat von Osterholz-Scharmbeck zustimmen – und vieles deutet darauf hin – dann wäre es der erste Weg in Deutschland, der nach einem Deserteur benannt wäre.

Angefangen hat diese Geschichte, weil Ulrich Schröder glaubt, dass es seinen Schülern am Fachgymnasium Osterholz-Scharmbeck gut tut, sich Geschichte selbst zu erarbeiten. Und deshalb hat er Themen für die Projektarbeit zusammengesucht. Dass in der Gegend ein Deserteur hingerichtet wurde, stand immer wieder in den örtlichen Heimatkundebüchern. Aber nur diese dürren Fakten, kein Name, kein Hinweis, wer dieser Mensch gewesen war.

Drei Schülerinnen der Jahrgangsstufe 12 wollten seiner Geschichte nachgehen, aber sie hatten kein Glück bei der Recherche. Zumindest nicht im Internet, wo sie gesucht hatten. „Glaubt ihr, dass in Deutschland einfach so ein Toter verschwindet?“, fragte Schröder seine Schülerinnen. In den Unterlagen der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde, auf deren Friedhof er begraben worden war, fanden sie schließlich den Namen des Jungen: Kurt Albrecht. Damit ließ sich die Militärgerichtsakte aus dem Zentralnachweis des Bundesarchivs Aachen anfordern. Kurt Albrecht bekam plötzlich eine Geschichte. Sogar ein Gesicht. Einziges Kind einer Arbeiterfamilie in Rotenbach bei Kaiserslautern, hatte er sich am 23. April 1945 von seiner Marine-Einheit abgesetzt. Am 28. April wird er wegen „Fahnenflucht im Felde“ auf dem Schützenplatz hingerichtet. Bis 1955 kommen seine Eltern jedes Jahr nach Osterholz, um das Grab ihres Sohnes zu besuchen. Dann werden sie zu alt für die Reise und lassen seinen Leichnam nach Rotenbach überführen.

Die Schüler fanden, dass es nicht genügt, dass sie wissen, wer Kurt Albrecht war. Im Mai schrieb die Jahrgangsstufe 12 einen Antrag an den Bürgermeister der Stadt, den Weg hinter der Schule zu sanieren und ihm den Namen „Kurt-Albrecht-Weg“ zu geben. Er wäre eine „ständige Erinnerung an das Schicksal des jungen Deserteurs“, schreiben die Schüler. „Seine Verurteilung und Hinrichtung ist ein abschreckendes Beispiel für die Unmenschlichkeit des NS-Regimes, das sich unmittelbar an unserem Schulort abgespielt hat.“ Der Planungsausschuss von Osterholz-Scharmbeck nahm den Antrag einstimmig an. Auch Wilfried Pallasch von der Bürgerfraktion stimmte zu. Allerdings gab er zu bedenken, dass es Menschen gäbe, die es „etwas eigenartig finden, dass man einen Deserteur heraushebt“. „Es ist zumindest nicht üblich“, sagt er. Albrecht sei kein Widerstandskämpfer gewesen. „Man muss nicht in Euphorie verfallen, sondern dabei sachlich bleiben.“

Die Verwaltung schrieb eine „Erläuterung der Vorlage Nr. 83-2005“. Es klingt ein bisschen so, als müsse sie sich rechtfertigen. Sie habe keine Bedenken gegen die Benennung, steht darin. Denn es sei eine „Würdigung all derer, die im Zweiten Weltkrieg unnötig und sinnlos zum Tode verurteilt wurden“. Aber sie möchte in Kurt Albrecht lieber keinen Deserteur sehen. Deswegen steht in dem Papier: Der 17-jährige Kurt Albrecht „setzte sich von der Truppe ab, um in die Geborgenheit seiner Familie zurückzukehren und nicht um Verrat an seinem Vaterland zu üben“.

Die meisten Deserteure sind wohl nicht geflohen, weil sie Verrat im Sinn hatten, sondern weil sie dem Krieg entkommen wollten. Doch vielleicht spielt es keine Rolle, welche Erklärung der Planungsausschuss braucht, um seine Entscheidung weniger brisant scheinen zu lassen.

Letzte Woche hat auch der Verwaltungsausschuss den Antrag einstimmig abgesegnet. Nun muss noch der Stadtrat zustimmen, er tagt am 7. Juli.

Die Schüler von Ulrich Schröder wollen jetzt herausfinden, was aus dem Militärrichter Dr. Goller wurde, der Kurt Albrecht zum Tode verurteilte. Und was man in Osterholz von all dem wusste. Friederike Gräff