berliner szenen: Wo sind denn Ihre Papiere?
Hauptbahnhof, S-Bahn. Der Waggon ist voll besetzt, als zwei junge Musiker einsteigen. Musik ertönt aus einem großen Lautsprecher, blitzschnell sind zwei Geigen gezückt und spielen zur Melodie. So weit, so bekannt. „Ruhe!“, schreit eine Frau. Nicht sehr höflich, aber noch nicht außergewöhnlich. Doch dann steht sie auf. Etwa Mitte 50 ist sie, gut gekleidet, aber nicht zu teuer für die S-Bahn. Eine „Karen“ würden die Soziale-Medien-Affinen sagen. Sie stellt sich vor die beiden Geiger und ruft: „Machen Sie bitte den Lautsprecher aus, es ist schrecklich! Und ihr habt keine Genehmigung dafür!“
Die Musiker bleiben unbeeindruckt, fiedeln konzentriert weiter. Da nimmt die Frau die Tasche mit dem Lautsprecher hoch, den die beiden vor sich abgestellt haben. Der eine Geiger reißt die Tasche wieder an sich, während der andere weiterspielt. „Macht das aus! Keiner hier mag die Musik!“, schreit sie. „Sei leise, Alte!“, entgegnet der Musiker wütend. Beide haben nun aufgehört zu spielen, nur der Lautsprecher dudelt unbeirrt weiter. „Zeigen Sie mal Ihre Genehmigung! Sie haben bestimmt keine! Niemand will das hier hören!“, insistiert sie und zerrt weiter an der Lautsprechertasche.
„Sie können nur für sich sprechen! Ich mag die Musik“, schreitet ein unauffälliger Passagier neben der Frau ein. Und eine andere Person ruft durch den Wagon: „Wo sind denn Ihre Papiere! Sind Sie vom Ordnungsamt, oder was?!“ „Das ist nur rassistisch.“, murmelt ein weiterer Mitfahrender. Die Frau, sichtlich erschüttert über die fehlgeleitete Solidarität, lässt die Tasche los und steht unbeholfen neben den Geigern. Die Türen öffnen sich und sie verlässt den Wagen. Die Geiger beenden ihr Stück. „Ich finde das richtig gut, dass Sie etwas gesagt haben“, sagt eine ältere Dame noch zu dem unauffälligen Passagier. Leila van Rinsum
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