: Warten auf die neue Mutter
Schriften zu Zeitschriften: „Sinn und Form“ über Sportbekleidung und Essstörungen
Wenigstens zwei Dinge dürften dem bis vor kurzem beliebtesten Politiker Deutschlands einen dauerhaften Platz im Gedächtnis der Nation sichern: die historischen Turnschuhe und der ständige Ärger mit der Plauze. Und seltsam, ausgerechnet diese beiden Motive werden in der jüngsten Ausgabe der Berliner Literaturzeitschrift Sinn und Form (3/2005) schon einmal vorsorglich seziert – als hätte man dort die vorgezogene Trauerarbeit um Rot-Grün und die politische Anorexie vor den Neuwahlen frühzeitig erahnt.
Man kann sich also denken, von wem hier die Rede ist, wenn der in Frankfurt am Main lebende Essayist Martin Mosebach ganz arglos über die sozialen Botschaften von Sportbekleidung reflektiert: „Turnschuhe im Gerichtssaal oder in der Halle eines Grand Hotels drücken aus, dass sich ihre Träger nicht ganz und gar von den Fesseln der Pflicht binden lassen, sondern unter einem anderen, höheren Gesetz stehen, dem der eigenen Körperlichkeit, die ihnen eine ständige Empfindung stillen Wohlgefallens verspricht.“ War dem unschuldigen Anfang der spätere politische Fall schon eingezeichnet? Mosebach zufolge diene legere Sportkleidung nämlich dazu, „in der uns bis auf die Poren bedrängenden Massengesellschaft Illusionen von Einsamkeit zu ermöglichen, ohne sich von der Masse abwenden zu müssen, ja, damit sogar ihren Beifall zu erlangen: als schwitzende strampelnde Monade im fröhlichen Verein mit allen anderen Monaden, die das Band des Wohlgefühls fest, aber nicht drückend umschlingt“. Diese gesellschaftliche Idee im Zeichen des Körpers ist nun zerstoben.
Denn „wenn die Dinge schlecht stehen, neigen wir zu suchtähnlich werdender Unmäßigkeit“, schließt daran nahtlos der Beitrag des französisch-amerikanischen Literaturwissenschaftlers René Girard zum Thema Essstörungen an. Ihm zufolge zeigten die zahllosen Gourmetzeitschriften, Fernsehkochsendungen und „unsere falsche Fröhlichkeit in Ernährungsfragen“, dass unsere Kultur „vom Essen besessen“ ist. Anorexie und Bulimie betrachtet er als kulturelle Metaphern. Denn „das anorexische Verhaltensmuster ergibt Sinn nicht im Zusammenhang mit unseren offiziellen Werten, sondern in Verbindung mit dem, was wir unsere Kinder schweigend lehren, sobald wir nicht mehr von Werten schwafeln“. Besonders interessant: „An Essstörungen leiden nicht Menschen mit religiösem Katzenjammer, Traditionalisten und Fundamentalisten, sondern die ,Emanzipiertesten‘“. Sogar schweißtreibender Ausgleichssport – mag er auch „durch Schlagworte wie Leben im Freien, Einssein mit der Natur, Mutter Erde […] Ökologie, gesunde Lebensweise“ unterfüttert sein, ist im Grunde genommen unpolitisch: „Der einzig wahre Beweggrund ist der Wunsch, abzunehmen.“ Letztes Movens sei allein der Stolz, „ein Ideal zu erfüllen, das vielleicht als einziges noch von der gesamten Gesellschaft geteilt wird: Schlankheit“. Wer denkt hier nicht sofort an Fischers Bauch und die angeblich aufgeblähte Hartz-IV-Bürokratie, um sich das Scheitern von Rot-Grün zu erklären?
Das kapitalistische System soll jedenfalls unschuldig sein: „Es stellt systematisch Konsum über Enthaltsamkeit und hat unsere Diäthysterie bestimmt nicht erfunden.“ Die im 19. und 20. Jahrhundert entwickelten „Hermeneutiken des Argwohns […] Psychoanalyse, Marxismus, Feminismus usw.“ haben Girard zufolge als Erklärungsmuster für den „Neopaganismus unserer Zeit“ ausgedient: „Die intellektuelle Schönheit unserer Essstörungen […] besteht darin, dass sie den Bankrott all jener Theorien offenbaren, die nach wie vor unsere Universitäten dominieren.“ Moderne und postmoderne Theorien müssten sich nämlich an den wirklichen Gründen die Zähne ausbeißen: „Ursache dieser Störungen ist die Vernichtung der Familie und anderer Schutzmechanismen gegen die Kräfte der mimetischen Zersplitterung und Konkurrenz, die durch den Wegfall aller Verbote entfesselt wurde.“
Gerade der Verfall repressiver gesellschaftlicher Instanzen lässt also den armen Menschen keine andere Handlungsorientierung mehr übrig, als die Rivalität der plumpen Nachahmung. Die Zerschlagung der Religion habe ironischerweise nur Karikaturen von Religion hervorgebracht, so dass inzwischen „notwendigerweise wieder im mimetischen Prozess verwurzelte ältere, grimmige Gottheiten in modernem Gewand erscheinen“.
Girard bedauert daher, dass mit den letzten religiösen Verboten auch das wohltuende Ritual der gemeinsamen Mahlzeit in der Familie verschwunden ist: „Industriell gefertigte Nahrung ist gewiss leichter zu erbrechen als das mütterliche Essen.“ Warten wir erst mal ab, was die neue, „schwarze“ Mutter auftischen wird. JAN-HENDRIK WULF
„Sinn und Form“ 3/2005, 9 €