Bernhard Pötter über KINDER
: Der revolutionäre Kragenbär

Mit Kindern im Zoo (Teil III): Der Bär von der traurigen Gestalt: Im Wald der Chef, im Zoo der Teddy

Wir hatten Glück: Der Wind stand günstig, an diesem Tag im August 1996 im Denali-Nationalpark in Alaska. Wir (kinderlos) sahen die drei Grizzly-Bären (mit Kindern!), ehe sie uns riechen konnten. Also hatten wir die Chance, unser Frühstück hastig in die Rucksäcke zu stopfen und im Eilmarsch zu verduften. Vier Wochen später hatten wir bei einem weiteren Familientreffen Pech: Im Yosemite-Nationalpark marodierte Mutter Schwarzbär durch unser Lager und brachte ihren zwei Jungen schlechte Manieren bei. Sie rissen unseren Proviantsack aus den Bäumen und fraßen unsere Nudeln für die nächste Woche. Uns wurde dabei kein Härchen gekrümmt. Aber plötzlich merkten wir, dass wir in der Nahrungskette nur noch an zweiter Stelle standen. Ich kann Ihnen sagen: Das ist ein Scheißgefühl.

„Hallo, blöder Bär!“, rufen Jonas und seine Freunde am Käfig des Braunbären. Sie werfen nur einen kurzen Blick auf Ursus arctos horribilis, der sein mächtiges Hinterteil an uns vorbeischaukelt. Max kann ich gerade noch davon abhalten, eine Kugel aus Schokoladen-Stanniolpapier nach dem leicht autistisch wirkenden Teddy zu werfen.

Kindergeburtstag im Zoo: Vor dem Bärenzwinger werden die Geschenke ausgepackt. In zwei Meter Entfernung schnieft Meister Petz. Eine Betonmauer und eine dicke Glasscheibe machen den Unterschied.

Ich bin gern im Zoo. Nur bei den Bären bekomme ich meine Depression. Es ist schlimm, den unumschränkten Herrscher seines Territoriums hier als handzahmen Tanzbären zu erleben. Und zu sehen, wie sich unser Überlegenheitsgefühl von ein bisschen Stahl, Beton und Glas aufblähen lässt.

Fütterung. Ein Wärter kippt die Zwischenmahlzeit in den Wassergraben. Die Bären springen ins Wasser, spielen mit den alten Brötchen und schnappen nach den Äpfeln, die auf den Wellen tanzen. „Guck mal, der kriegt den Apfel nicht!“, ruft Jonas. „Die sind zu blöd zum Fressen“, sagt Elisa. Wer mal gesehen hat, wie gekonnt Braunbären Lachse filetieren oder ein Blaubeerfeld abernten, der denkt anders darüber.

Ich bin kein Öko-Romantiker. Die Bären haben im Zoo sicher ein besseres Leben als viele ihrer Artgenossen in der Wildnis. Wahrscheinlich stört es sie auch nicht, von sechsjährigen Menschen geschmäht zu werden, solange die Fische pünktlich zum Abendessen auf dem Teller liegen. Und leisten sie nicht einen Beitrag zum Artenschutz – weil man nur schützt, was man kennt? Mag sein. Aber wer Bären im Zoo sieht, der kennt sie gerade nicht. Er sieht einen autistischen Teddy. Und nicht den Chef im Wald.

Pech für den Petz: Dieses Verhalten ist auf unserer Seite der Barrikade ganz normal. Solange es keine Konsequenzen hat, nehmen wir gern den Mund voll. Deshalb hat Fußballdeutschland etwa 40 Millionen Bundestrainer. Nimmt man die Frauenmannschaft dazu, sind es sogar 80 Millionen. Deshalb schreiben wir Journalisten gern und ausführlich über das Problem Arbeitslosigkeit. Wenn wir uns selbst auf Jobsuche befinden, sehen viele Dinge plötzlich anders aus. Wer eine sichere Mauer zwischen sich und dem Problem hat, schneidet gern Grimassen. So war es für uns Wessis mit der DDR: Solange die Mauer uns vor ihnen schützte, war es leicht, ihre Freiheit vom russischen Bären zu fordern. Plötzlich kamen sie dann. Panik!

Wie schnell Großmäuler zu Hasenfüßen werden, zeigte sich nicht nur vor 16 Jahren an der Rolle der SED bei der Wende in der DDR. Das demonstrierte auch im letzten Sommer der Kragenbär im Berliner Zoo. Zack, hatte er einen alten Baumstamm aus dem Käfig über das Gitter gelegt und war aus dem Käfig geklettert. Schnell waren die Machtverhältnisse umgedreht, schon floh die herrschende Klasse in Panik. Der wendige Bär zeigte uns: So einfach geht das, und schon sieht die Welt ganz anders aus. Nur weil einem mal der Kragen platzt.

Dabei war von Revolution eigentlich nie die Rede. Er wollte nur mal sehen, wie es auf der anderen Seite der Mauer so aussieht.

Fotohinweis: Bernhard Pötter

KINDER Fragen zum Nutzwert? kolumne@taz.de MORGEN: Josef Winkler ZEITSCHLEIFE