piwik no script img

In die Nazi-Scheiße verschickt

Zwei Theaterstücke im Norden setzen sich mit dem Schicksal sogenannter Verschickungskinder auseinander: Auf Spiekeroog zeigt „Das Letzte Kleinod“ mit „Sandbank“ differenziertes Dokumentartheater, in Hamburg reiht Gernot Grünewald in „Heim|weh“ Szenen voller Grausamkeit aneinander

Von Jens Fischer

Malerisch hängen die Kutterschiffer ihre Netze zum Trocken auf. Der kleine Hafen Neuharlingersiel, Startpunkt ins bullerbühafte Ferienidyll Spiekeroog, hat sich als ehemaliger Marktplatz des Dörfchens in Sachen Tourismusgemütlichkeit noch mal aufgehübscht. Wer die angeblich frisch aus der Nordsee auf ein labbriges Weizenbrötchen verfrachteten Krabben probieren möchte, muss 8,50 Euro berappen. Nebenan reihen sich Wohnmobile mit Meerblick auf. Der Strand ist vor lauter Strandkörben kaum zu sehen. Urlauber deichwandern vor der Windkrafträder-Skyline.

Auf dem Weg zur Fähre sind betont vergilbte Plakate mit Kindern zu entdecken, die übermütig gegen Brandungswellen kämpfen. Damit kündigt das Theaterprojekt „Das Letzte Kleinod“ aus dem niedersächsischen Schiffdorf seine sechste exklusiv für Spiekeroog entwickelte Produktion „Sandbank“ an. Optik und Titel passen prima zum etwas feineren Unterhaltungsprogramm der Insel. Im Inselkino laufen gerade „Top Gun: Maverick“ und „Immenhof 2“, aber das ist schon der Tiefpunkt. Schlagerfuzzis, Shantychöre oder Comedians werden nicht gebucht, lieber Lesungen, Strandyoga oder Jazzkonzerte.

Das Oral-History-Konzept des Teams vom Letzten Kleinod findet zudem eine museale Fortsetzung. Der Lesepavillon in der herb-idyllischen Dünenlandschaft wird neuerdings genutzt, um die Inselgeschichte mit Videomonologen der ältesten unter den derzeit 750 hauptamtlichen Bewohnern zu verlebendigen. Eine konkrete Episode rückt Kleinod-Regisseur Jens-Erwin Siemssen mit „Sandbank“ in den Fokus. Nicht das kinderurlaubsfidele Image des Plakats bedient er dabei, sondern arbeitet im historischen Kleinod der Strandsporthalle die teilweise traumatisierenden Aufenthalte von Verschickungskindern auf.

Laut Arbeitsgemeinschaft Verschickungskind bestand auf Spiekeroog die Möglichkeit dazu etwa im Kinderheim „Stranddistel“, dem Haus Thölen, dem Kinder­erholungsheim „Schloßmacher“ und dem Kinderkurheim „Haus Meerstern“. Ein Dutzend solcher Einrichtungen gab es auf der Insel, mehr als 1.000 in Deutschland.

Dank der medienwirksamen Initiative www.verschickungsheime.de wurde öffentlich, dass von den 1950er- bis in die 1990er-Jahre geschätzt mehr als acht Millionen von Krankheit heimgesuchte, unter- sowie übergewichtige oder aus wirtschaftlich schwachen Verhältnissen stammende Kinder in Kuren zur Kräftigung geschickt wurden.

Dort waren sie „Strafen, Demütigungen und Essenszwang bis hin zu Schlägen, sexueller Gewalt und Medikamentenmissbrauch ausgesetzt“, „Heimweh, autoritärer Erziehungsstil, stupide Freizeitgestaltung und miserables Essen“ bestimmten den Alltag, wie es in einer ersten, im Januar 2022 veröffentlichten Studie des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen heißt.

Damit daraus kein deprimierender Theaterabend wird, agieren vier Dar­stel­le­r:in­nen Kleinod-üblich mit Fundstücken des Spielorts. In diesem Fall Turnstunden-Utensilien. Mit Kastenelementen werden Bühnenbilder, mit Hula-Hoop-Reifen klappernde Bronchien angedeutet, auch Gefühle von Nähe und Gefangensein dargestellt. Regisseur Jens-Erwin Siemssen lässt kaum einen Satz unillustriert, wobei die Choreografie aus Körpern und Objekten einen faszinierenden Drive entwickelt.

Die Texte dazu entstammen Interviews mit ehemaligen Erzieherinnen, einem Hausmeister, Koch, Heimleiter sowie vier ehemaligen Verschickungskindern, die vier- bis neunjährig für sechs Wochen auf Befehl des Hausarztes nach Spiekeroog verbannt wurden. Einige fröhliche Erlebnisse stehen neben Schilderungen erniedrigender Übergriffe.

Erzählt wird aus der entspannten Perspektive zeitlicher Distanz. So kann auch „der ganze Nazi-Scheiß“ kritisiert werden, nämlich personelle und pädagogische Kontinuität. Es habe Mitarbeiter gegeben, die schon an der Kinderlandverschickung der Nationalsozialisten beteiligt waren, und jüngere Mitarbeiter:innen, die aus Elternhäusern stammten, in dem sie schwarze Pädagogik gelernt und später unreflektiert ausgeübt hätten. Motto: Damit Kinder möglichst wenig Arbeit machen, seien sie zu brechen, bevor sie eigensinnig, gar aufmüpfig werden.

Angesichts der willkürlich empfundenen Bestrafungen stellt sich schnell ein Gefühl der Hilflosigkeit und Verlorenheit ein. Berichtet wird über lebenslange Angst-, Schlaf-, Essstörungen und Depressionen als psychische Folgen des Kurheim-Aufenthalts.

Berichtet wird über lebenslange Angst-, Schlaf-, Essstörungen und Depressionen als Folgen des Kurheim-Aufenthalts

Im Hamburger Thalia-Theater hat Gernot Grünewald einen ganz anderen Blick auf das Thema inszeniert – und eine Szenenfolge mit besonders üblen Beispielen von Kindesmisshandlung: „Heim|weh“. Kontrastierend eingesprochen wird dazu ein Lehrbuch zu liebevoller Fürsorge. Arzt und Erzieherin zeichnen am Thalia den auf Spiekeroog angesprochenen „Nazi-Scheiß“ nach, eine junge Hilfskraft empört sich in leiser Ohnmacht. All das, was in „Sandbank“ zu hören war, wird auch dort als Erfahrung behauptet, nur eben nicht in kindlich verspielter Art, sondern erschreckend realistisch.

Die Kinder werden dabei von Senioren gespielt, die sich zurück in die schlimmste Zeit ihres Lebens albträumen. Im Schlafsaal-Bühnenbild müssen sie ihren Namen gegen eine Nummer eintauschen. Und dann wird alles kaum erträglich. Auf Spiekeroog ist die Höhensonnenbestrahlung für die Illusion urlaubsbrauner Gesundung noch ein Spaß, in Hamburg eine Zwangshandlung. Wer auf Spiekeroog etwas nicht essen mag, darf es auch mal beiseite stellen, in Hamburg wird ihm der Einheitsbrei im Wortsinne eingetrichtert. Es wird gezüchtigt und unbedingter Gehorsam mit Sedierungsspritzen oder mit auch mal tödlich endender Gewalt durchgesetzt. Eine Grausamkeit reiht sich an die nächste. Statt individuellen Leids ist massiertes Unrecht zu erleben.

Aber Siemssen verharmlost nicht und Grünewald bauscht nicht auf. Vielmehr verdichtet der eine die negativsten Erlebnisse, der andere versucht nach besten Recherchewissen objektiv, also differenziert zu sein. „Es war auf Spiekeroog auch einfach nicht so schlimm wie in Heimen anderswo, ich habe keinen Hinweis auf körperliche Strafen, geschweige denn sexuellen Missbrauch gefunden, was es ja anderswo gab“, sagt Siemssen.

Beide Regisseure aber wollen aufklären. Das gelingt der kunstvoll leichten Aufarbeitung des schweren Themas für die Insel­urlauber besser als der radikal zuspitzenden Kinder-KZ-Inszenierung für Stadttheaterbesucher. Und nach so einem Abend über die Bösartigkeit der Menschen ist es einfach ein Segen, darüber am Strand horizontweit nachdenken zu können.

„Sandbank“: bis 19. 8., Mo–Fr, 20 Uhr, Spiekeroog, Strandsporthalle; für Gäste vom Festland gibt es Aufführungen um 16 Uhr: 27. 6., 7. 7., 20. 7., 4. 8., 10. 8. und 18. 8.

„Heim|weh“ am Hamburger Thalia in der Gaußstraße ist in dieser Spielzeit nicht mehr zu sehen

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen