wortwechsel
: Selbstbestimmung beim Geschlechtseintrag

Le­se­r*in­nen diskutieren über die Selbstbestimmung und ob es unter jungen Menschen Mode ist. Aber was ist Geschlecht, wenn die Grenzen so fließend sind?

Till Randolf Amelung, Kalle Hümpfner und Tessa Ganserer stehen gemeinsam vor einer Glaswand vor der taz

Till Randolf Amelung, Kalle Hümpfner und Tessa Ganserer vor der taz Foto: Anja Weber

„Trans ist keine Mode/Der Trans Gipfel“

taz vom 11./12. 6. 22

Keine Mode

Ich bin selbst transsexuelle Hamburgerin. Meine Jugend in den 70er bzw. 80er Jahren war zwar geprägt von Selbstzweifeln, bzw. der Konfrontation mit frauenbewegten Frauen (zu denen ich immer gehören wollte!!); glücklicherweise aber waren die Hamburger Behörden bei mir total nett & kooperativ. Dennoch bin ich froh, dass es künftig mehr Selbstbestimmung über den Geschlechtseintrag geben soll. Es muss aber jedem und jeder in der Gesellschaft klar sein, dass die amtlichen Vorgänge nur das i-Tüpfelchen sind. Der wirkliche Kampf, den einem niemand ersparen kann, beginnt in dem Augenblick, wo man im ersehnten Geschlecht lebt und abseits bürgerlicher Normen den Alltag meistern muss. Unendlich schwierig ist die Partnersuche, Internet-Dating ist praktisch unmöglich. Selbst ich, die ich als Hamburger Taxifahrerin Gott und die Welt in meiner Stadt kenne, bin weitgehend isoliert, weil ich niemanden an mich heranlasse. Psychotherapeut/inn/en sind meist überfordert mit den Ängsten, die man nach vielen diskriminierenden Erlebnissen als Transmensch hat. Nicht verstanden, nicht gehört zu werden ist heute, nach über der Hälfte meines Lebens in der Frauenrolle, mein größtes Problem. Der existenzielle tiefe Drang, dem jeweils „anderen“ Geschlecht angehören zu wollen, hat viel mehr mit sozialer Akzeptanz und psychosozialen Prägungen zu tun als mit Sexualität. Deshalb – und nicht primär aus transvestitischer Veranlagung – ist Kleidung so extrem wichtig. Kleider machen Leute, und sie geben Sichthilfe. Mein Traum – auch heute noch mit fast 60 – wäre eine Jugend, eine Schulzeit als normal akzeptiertes Mädchen gewesen. Das war in den 70er Jahren undenkbar. Heute ist es vielleicht in gewisser Hinsicht leichter, als junger Mensch trans zu sein. Klar ist: Eine Mode ist es nicht und war es nie.

Christiane-Angela Blandow, Hamburg

Unzufriedenheit mit sich und seinem Körper

Der Überschrift muss ich zumindest teilweise widersprechen. Als Kinder- und Jugendpsychiaterin habe ich im Lauf der Jahre immer wieder Wellen von „Modediagnosen“ erlebt, hinter denen oft die Frage stand: Warum bin ich anders? Warum fühle ich mich in meinem Körper nicht wohl? Es ging um Magersucht, ADS, Hochbegabung, Asperger, Multiple Persönlichkeit, Borderline … und in den letzten Jahren zunehmend um „Trans“. Ich habe einige Jugendliche auf dem Weg in die Transition begleitet, aber auch mehrere erlebt, die noch mit 14 Jahren völlig entschlossen ihre Geschlechtsangleichung planten, ein Jahr später aber völlig davon abgekommen waren. Weil sich herausstellte, dass es andere Hintergründe für ihre Unzufriedenheit mit sich und ihrem Körper gab. Wie Till Amelung im Interview sagte, lehnen viele Jugendliche (eine Zeit lang) ihren Körper ab und sind deshalb nicht unbedingt trans. Da sehe ich eine große Gefahr, wenn von Therapeuten erwartet wird, dass sie affirmativ arbeiten, den Transitionswunsch also nicht hinterfragen und damit zu früh über eine riskante medizinische Behandlung entschieden wird. Zu der Utopie, wie in 30 Jahren mit dem Thema umgegangen wird: Ich würde mir wünschen, dass Geschlechtsrollen gar nicht mehr wichtig sind, dass Kinder Kleider oder Hosen in allen Farben, lange oder kurze Haare tragen, toben, tanzen raufen, mit Puppen spielen – ganz unabhängig von der Form ihrer primären Geschlechtsorgane.

Sabine Auschra, Destedt

Was ist Geschlecht?

„Welchem Geschlecht ein Mensch angehört, kann letztlich nur jeder Mensch für sich selbst beantworten“, sagt Frau Ganserer. Ich kann diese These akzeptieren, mit der einzigen Konsequenz, dann nicht mehr zu verstehen, was das Wort „Geschlecht“ bedeutet. Im Vergleich zu den Kämpfen, die Transpersonen austragen müssen, ist das ein geringer Preis, den ich gerne zahle. Bezeichnend ist aber doch, dass Kalle Hümpfner die sich aufdrängende Frage nach der Wortbedeutung nur ausweichend beantwortet: „wissenschaftlicher Konsens“, „psychosoziales Phänomen“. Was ist das für ein Phänomen, und wie viele Geschlechter gibt es? Das Thema steht gerade erst an der Schwelle von der Nische in den Mainstream. Spätestens wenn die Ampel ihre Gesetzentwürfe vorlegt ist mit einer breiten Debatte zu rechnen. Konservative und Rechte werden hier lautstark viel Hässliches absondern. Aber für Ak­ti­vis­t*in­nen wird es vielleicht irgendwann nicht mehr ausreichen, jedem, der die Thesen der Queertheorie kritisch hinterfragt oder ganz einfach nicht versteht, „Transfeindlichkeit“ oder gar „Hass“ zu unterstellen. Wenn man die Leute dazu bringen möchte, die Wörter „Geschlecht“, „Mann“ und „Frau“ in einer fundamental anderen Bedeutung zu benutzen als in der bisher üblichen – was ja vielleicht eine gute, dem Fortschritt dienliche Idee ist –, dann sollte man ihnen erklären können, was man mit diesen Wörtern meint. Transfrauen sind Frauen? Fair enough. Aber was meinst du mit „Frau“? Vielleicht werden die Leute in 30 Jahren die Vorstellung einer Geschlechterbinarität ebenso belächeln wie wir heute das geozentrische Weltbild. Oder aber sie werden die 2020er als eine Zeit betrachten, in der sich eine sich selbst als progressiv verstehende Bewegung ideologisch verrannt hat. Ich würde keine Wette abschließen.

Marcel_L auf taz.de

Niemand benachteiligen

Die eigentliche Frage müsste lauten: Warum überhaupt ein Geschlecht? Wieso muss man das definieren, egal wer? Die Betroffenen stören sich wahrscheinlich ja auch sehr viel mehr an der als falsch empfundenen Festlegung, als dass sie sich so unbedingt selber festlegen wollen. Mit einer generellen Nichtfestlegung können wir uns jedenfalls auch die unsägliche Ausdifferenzierung von irgendwelchen geschlechtlichen Identitäten schenken. Jeder darf sein, was er will, niemand darf wegen irgendwas benachteiligt werden.

Benedikt Bräutigam auf taz.de