Das Vertrauen des Herrn Bindig

AUS BERLIN BARBARA BOLLWAHN

Rudolf Bindig war sicher, die 30 Jahre voll zu kriegen. Hätte der Bundeskanzler den Wählern wie geplant im nächsten Jahr die Wahl gelassen, hätte er dieses Jubiläum auch geschafft. 30 Jahre im Bundestag. Aber Gerhard Schröder hat ihm das vermasselt. Weil er angekündigt hat, die Vertrauensfrage zu stellen und so Neuwahlen im Herbst herbeizuführen. Bindig wird nicht mehr kandidieren, so muss er sich mit einer krummen Zahl begnügen. 29 Jahre. Er trägt es mit Fassung.

Rudolf Bindig ist einer der wenigen SPD-Abgeordneten, die all das so ähnlich schon erlebt haben. Kanzlerkrise, Vertrauensfrage, Verfassungsdiskussion. 1982 hatte er noch keine weißen Haare und der sozialdemokratische Kanzler, dessen Zeit zu Ende ging, hieß Helmut Schmidt. Auch damals wurde die Vertrauensfrage gestellt, allerdings von Helmut Kohl, der Schmidt durch ein konstruktives Misstrauensvotum abgelöst hatte und Neuwahlen herbeiführte. Geheimabsprachen, Gerüchte, Sondersitzungen – Bindig kennt das. Vermutlich braucht man diese Erfahrung, um das aktuelle Geschehen gelassener zu betrachten. Jüngere sprechen aufgeregt von einem politischen Erdbeben. Bindig sagt: „Ich analysiere die Lage als schwierig. Aber es ist eine historische Fehlentscheidung vom Kanzler und Münte.“

Der 64 Jahre alte Mann mit dem prägnanten Bart sitzt in seinem Berliner Büro Unter den Linden. Er gibt die erste von vielen Anekdoten zum Besten, die er mit den Worten „Wenn ich mir erlauben darf, sie zu erzählen“ einleitet. Schon vor zwei Jahren, als er 27 Jahre im Parlament saß, hat er eine für ihn beeindruckende Zahl entdeckt. Seinen Einzug in den Bundestag 1976 hat er ins Verhältnis gesetzt zur Gründung der Bundesrepublik 1949. „2003 war ich die Hälfte der Zeit der Existenz der Bundesrepublik im Bundestag“, rechnet er vor: „49 plus 27 ist 76, 76 plus 27 ist 2003.“ Als habe er Angst, zu eitel zu wirken, schiebt er hinterher: „Ein kleines Spiel.“ Er hält einen weiteren Rekord. „Ich bin einer der ganz wenigen Abgeordneten, der in allen Plenarsälen gesprochen hat.“ Wieder fügt er an: „Eine formale Sache.“

Ein bisschen knorrig

Vielleicht wird man automatisch zum Geschichtenerzähler, wenn man drei Bundeskanzler erlebt hat, das Entstehen und den Untergang von Koalitionen. So wie 1982 bei Helmut Schmidt. „Das war ohne Zweifel neben der Wiedervereinigung eine der Sachen, die mich emotional am stärksten berührt haben“, sagt Bindig. Auch dazu hat er eine Anekdote auf Lager. „Ich spielte damals eine kleine Rolle, wenn ich das sagen darf.“

In dieser historisch einmaligen Situation verfasste er in Bonn einen Brief an den damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens. Darin zitierte er die Grundgesetz-Artikel, nach denen der Bundespräsident den Bundestag auflösen und Neuwahlen herbeiführen kann. Er fragte den Bundespräsidenten, ob er die Artikel auch dann für anwendbar hält, wenn ein Bundeskanzler, der eigentlich über eine Mehrheit verfügt, eine fiktive Situation schafft, um den Bundestag zu einem ihm genehmen Zeitpunkt aufzulösen. „Wie beurteilen Sie als Bundespräsident diese Situation und wie gedenken Sie in diesem Falle vorzugehen?“

Wie heute hatten Politiker und Verfassungsrechtler auch 1982 darüber diskutiert, ob nicht die Verfassung geändert werden müsse. Fünf Tage später bekam Bindig Antwort von Carstens. Der erklärte nun erstmals, dass er nach dem Grundgesetz sehr wohl einen Ermessensspielraum habe, den Bundestag aufzulösen. „Der Bundespräsident muss nach meinem Verfassungsverständnis nach pflichtgemäßem Ermessen unter Abwägung aller relevanten Umstände entscheiden.“

Bindig erinnert sich noch gut an damals. „Alle waren aufgewühlt. Beim Misstrauensvotum hingen alle mehr in den Sitzen als sie saßen.“ Er rutscht auf seinem Stuhl so weit nach vorne, dass man Angst hat, er könnte hinunterfallen. Auch über zwanzig Jahre später wirkt er noch aufgewühlt, wenn er von der letzten Rede Helmut Schmidts im Bundestag erzählt. Das hat damit zu tun, dass er sich auch da als Fußnote der Geschichte erwähnen kann. „Schmidt zitierte mich in seiner Abschiedsrede.“ Wie zuvor die überregionale Presse erwähnte der abgewählte Bundeskanzler den Brief, den der Bundespräsident an den sozialdemokratischen Abgeordneten Bindig geschrieben hatte.

Wenn er am Freitag die zweite Vertrauensfrage seiner politischen Karriere erlebt, wenn der Kanzler ihm und den anderen 597 Abgeordneten die Vertrauensfrage stellt, wird der Abgeordnete Rudolf Bindig ihm das Vertrauen aussprechen – obwohl die SPD-Chefs wollen, dass sich ihre Leute enthalten. Aber Bindig vertraut dem Kanzler, warum soll er das dann nicht bekunden. „Ich empfinde mich als ein bisschen knorrig. Und will es auch sein.“

Als er von den vorgezogenen Neuwahlen erfuhr, war Bindig in Zypern. Er war dort, weil er die Bundesrepublik in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates als Vizevorsitzender vertritt. Außerdem ist er seit über 20 Jahren Sprecher für Menschenrechte der SPD-Fraktion. Das erklärt, dass er nach so vielen Jahren im Bundestag der breiten Öffentlichkeit wenig bekannt ist. Sein erster Gedanke, nachdem ihm seine Lebensgefährtin, die einen SPD-Ortsverband am Bodensee leitet, die überraschende Neuigkeit per Handy mitgeteilt hatte: „Warum denn das?“

Bindig ist schon der Meinung, dass die SPD sozialer und ökologischer sein müsste. Aber er betont, dass die Grundpolitik der Bundesregierung richtig sei. „Das rot-grüne Modell ist für unsere Gesellschaft die richtige Konstellation, die vieles bewirken kann.“

Deshalb flog er einen Tag früher als geplant aus Zypern zurück. Er wollte auf der eilig einberufenen Sondersitzung der SPD-Faktion das Wort ergreifen. „Ich will mich nicht rausstellen“, sagt er, „aber ich bin immer noch der Auffassung, dass es eine Alternative zu Neuwahlen gibt.“ Für seine Forderung nach klarer Bestandsaufnahme, besserer Öffentlichkeitsarbeit, einer Ergänzungsagenda, sozialer Verantwortung internationaler Unternehmen und einiges mehr bekommt er vor der Fraktion Beifall. Er erklärt, dass die genannten Punkte als „geschlossenes Paket“ in den Bundestag gebracht werden könnten, und wenn die Opposition im Bundesrat blockiert, hätte man „eine klare Sollbruchstelle“. Aber so, sagt Bindig, so sagen die Leute, die gehen einfach.

Es ist keine familiäre Tradition, die ihn zur SPD gebracht hat. Es war der Einfluss eines Freundes, der ihn zum Ende seines Studiums politisierte. Bei den Jungsozialisten hat er alle die Genossen kennen gelernt, die später Minister, Parteichef, Kanzlerkandidat oder Kanzler wurden: den Schröder, den Scharping, die Wieczorek-Zeul, den Eichel, den Benneter. Er sagt, dass er mit ihnen immer noch „auf Augenhöhe“ spreche. Mit Schröder, zum Beispiel, den er zum letzten Mal auf der China- und Japanreise im Dezember traf, habe er sich „sehr nett und herzlich“ unterhalten. Schröder und Bindig sind beide Herrchen eines Terriers. Schröder hat einen Borderterrier, Bindig einen Tibetterrier.

Zornige Rinder

Wer fast den gleichen Hund hat, den kann man auch mal ordentlich kritisieren. „Wenn eine Herde friedlich grast und die Leittiere losrennen und alle hinterher, dann gibt es eine Stampede.“ Stampede nennt man es, wenn den Cowboys eine Herde aufgeschreckter oder zorniger Rinder durchgeht. Sie sind dann nur schwer wieder einzufangen, oft geraten die Cowboys bei einer Stampede unter die Hufe.

Bindig sagt, er hoffe, dass die Stampede nicht in einem Abgrund endet. Blessuren, Dornengestrüpp, all das sieht er in den Tagen vor der Vertrauensfrage. „Ich will nicht defätistisch sein“, sagt er, „aber warum diese Kraftanstrengung, wenn wir da landen, wo wir angefangen haben?“

Er hat gemischte Gefühle. Einerseits ist es wieder einmal spannend. „Der Mantel der Geschichte weht ganz selten. Am 1. Juli weht er ein bisschen.“ Andererseits leidet er darunter, dass sozialdemokratische Abgeordnete ihrem Bundeskanzler nur aus taktischen Gründen nicht das Vertrauen aussprechen werden. Er macht da nicht mit. „Das ist ein taktisches Manöver. Daran beteilige ich mich nicht.“

Er weiß, dass er die Dinge nicht aufhalten kann. Im Herbst wird er nicht mehr dem Parlament angehören. Er plant Reisen nach Kanada und Alaska. Als Menschenrechtspolitiker hat er Gefängnisse in Estland besucht und Untergrundkämpfer in Inguschetien getroffen. Vermutlich hat er dort mehr bewirkt als in Deutschland. Er ist stolz, den Menschenrechtsausschuss etabliert zu haben, den es noch nicht gab, als er vor 29 Jahren in den Bundestag kam. „Was kann ein Abgeordneter mehr erreichen?“, fragt er und schweigt einige Sekunden.

Auf Bindigs Betreiben wurde nach dem Umzug von Bonn nach Berlin im Plenarsaal des Reichstags neben der Deutschlandfahne eine EU-Fahne aufgestellt. „Ich finde die Idee gut. Die ist eindeutig von mir.“ Und wieder rudert er zurück. „Es ist eine kleine Sache, nichts Großes Politisches.“ Aber, holt er noch mal aus, „da soll einer sagen, ein einziger Abgeordneter kann nichts erreichen.“