Nette Einladung zum Kanzlersturz

Müntefering zaubert ein neues Kaninchen aus dem Hut, und die Grünen gucken ihm fassungslos dabei zu: „Das ist eine richtige Farce“

AUS BERLIN JENS KÖNIG

Sage bloß keiner, die SPD und ihr Kanzler seine nach den Aufgeregtheiten der letzten Wochen zu keiner Steigerung mehr fähig. Sie sind es, und das in einem Maße, dass einem vor Staunen der Mund offen stehen bleibt. Nachdem über den genauen Weg des Kanzlers zu Neuwahlen erst gerätselt wurde, dann mit der Enthaltung der Minister einige Klarheit geschaffen schien, wird jetzt eine neue Variante ins Spiel gebracht, die für noch mehr Klarheit sorgen soll – über die aber viele wieder rätseln.

Massenhafte Enthaltung der Abgeordneten – so soll plötzlich das Misstrauen der rot-grünen Koalition gegenüber ihrem Kanzler organisiert werden. Als Erster ausgesprochen hat die Idee SPD-Partei- und Fraktionschef Franz Müntefering am Montagabend. Im Vorstand der Fraktion regte er die Enthaltung der SPD-Abgeordneten an. Die Wortwahl war ihm wichtig, es sollte nicht wieder nach einem Überfall aussehen.

Erler: „Kein Trick“

Der Alleingang Schröders und Münteferings nach der verlorenen NRW-Wahl steckt allen Sozialdemokraten noch in den Knochen. Also sagte der Fraktionschef, er wolle die Abgeordneten dazu „einladen“, sich am Freitag bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage des Kanzlers zu enthalten. „Ich werde nicht dazu auffordern.“

Am Dienstag erläuterte er diese Linie der SPD-Fraktion höchstpersönlich. Münteferings Stellvertreter leisteten vorher in der Öffentlichkeit Erklärarbeit. „Dieser Weg ist wesentlich überzeugender und sowohl für den Bundespräsidenten als auch das Bundesverfassungsgericht leichter zu akzeptieren“, sagte Fraktionsvize Gernot Erler. Die vorher erwogene Enthaltung der Minister erschien ihm auf einmal als „durchschaubares Konstrukt“. Bei über 200 Enthaltungen in der SPD-Fraktion hingegen werde klar, „da ist kein Trick dabei“.

Michael Müller, ebenfalls Fraktionsvize und Sprecher der Linken, setzte einen etwas anderen Akzent. „Wie politisch wird Schröders Erklärung am Freitag werden? Das ist die entscheidende Frage“, meinte er. Wenn der Kanzler deutlich mache, dass es im engeren Sinne nicht um Rot-Grün gegen Schwarz-Gelb gehe, sondern um die Frage, ob eine reformwillige Koalition gegen Populisten von links und rechts nicht mehr regieren könne, dann werde die Fraktion den Weg zu Neuwahlen freimachen.

Aber nicht so sehr diese politische, sondern offenbar die umstrittene verfassungsrechtliche Frage war es, die Müntefering zu seinem Schwenk bewogen hat. Die Rechtspolitiker der Fraktion hatten in den vergangenen Tagen vor einem möglichen Scheitern des Neuwahlverfahrens gewarnt, weil Bundespräsident oder Bundesverfassungsgericht sich genötigt sehen könnten, dem Kanzler den Weg wegen allzu durchsichtiger Trickserei zu versperren. „Jetzt geht es vor allem um eines“, sagte Erler ganz offen: „Welches Verfahren ist das gerichtsfestete?“

Viele SPD-Abgeordnete konnten sich auf die neue Lage gar nicht so schnell einstellen, wie sie über sie gekommen war. Sie erklärten, ihr Abstimmungsverhalten von Münteferings Erläuterungen und Schröders konkreter Erklärung am Freitag abhängig machen zu wollen.

Ströbele: „Das nervt“

Einige kündigten aber auch gestern schon an, in jedem Fall für Schröder stimmen zu wollen. „Als Niedersachse bin ich für den Kanzler“, sagte etwa Holger Ortel, Sprecher der niedersächsischen Abgeordneten. „Ich weiß gar nicht, wie Enthaltung geht.“ Müntefering rechnet dennoch damit, dass die meisten der 249 Abgeordneten seiner „Einladung“ folgen.

Und die Grünen? Sind wieder mal überfahren worden. Gerade als der Fraktionsvorstand am Montagabend diskutierte, ob sich neben den SPD- auch die Grünen-Minister der Stimme enthalten sollten, schneite die Nachricht von Münteferings Kurswechsel herein. „Das nervt“, sagte Fraktionsvize Christian Ströbele zur taz. „Aber ich werde nicht mit jedem Augenaufschlag des SPD-Vorsitzenden meine Position ändern.“ Er habe „ganz große Bedenken“, ob der neue Vorschlag verfassungsrechtlich sicher sei. Der Fraktionslinke Winfried Hermann ist nicht weniger aufgebracht. Das Vorgehen der SPD nennt er „strategie- und kopflos“. Hermann zur taz: „Die diskutieren jeden Tag ein anderes Modell.“ Und der Abgeordnete Werner Schulz, der sowieso schon eine Verfassungsklage gegen Schröders Procedere erwägt, ist geradezu erbost. „Das ist eine richtige Farce“, schimpfte er. Obwohl allein in der vorigen Woche Rot-Grün über 50 Abstimmungen im Bundestag gewonnen habe, sollen die Abgeordneten als Marionetten vorgeführt werden. Den „Tiefpunkt der demokratischen Kultur“ nennt er das.

Die grüne Partei- und Fraktionsspitze, obwohl mehrheitlich gegen das neue Verfahren, übt sich in Pragmatismus. „Die Menschen erwarten, dass wir den Weg für Neuwahlen freimachen“, sagt Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. Klingt wie: Dann enthalten wir uns eben, ist doch eh alles schon egal.