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Die Macht genießen

Neue Seiten an alten Rollen entdecken: Diese Kunst beherrscht die Regisseurin Ewelina Marciniak. Zum Theatertreffen ist sie mit „Die Jungfrau von Orleans“ eingeladen

Die Regisseurin Ewelina Marciniak ist seit 2018 auch in Deutschland erfolgreich Foto: Bartek Barczyk

Von Katja Kollmann

„Als Studentin war ich oft in Berlin beim Theatertreffen – und jetzt gehöre ich selbst zu den eingeladenen RegisseurInnen!“, freut sich Ewelina Marciniak. Ihre Mannheimer Inszenierung von Schillers „Die Jungfrau von Orleans“ hat es in die Top Ten des deutschsprachigen Theaters geschafft. Die Teilnahme ist der Ritterschlag für all die Theaterschaffenden, die zum ersten Mal dabei sind.

Marciniak inszeniert seit 2018 im deutschsprachigen Raum. Freiburgs Intendant Peter Carp und sein Chefdramaturg Rüdiger Bering holten die damals 34-Jährige ans Haus, nachdem sie in Warschau ihre fünfstündige Adaption der „Jakobsbücher“, eines Schlüsselwerks der polnischen Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, gesehen hatten. Sie gaben Shakespeares verspieltestes Stück „Ein Sommernachtstraum“ in ihre Hände. Und was macht Ewelina Marciniak? Sie schält präzise den Albtraum heraus, der sich dort auftut zwischen den Polen Macht und Schönheit.

Joachim Lux vom Hamburger Thalia Theater sieht diesen Anti-„Sommernachtstraum“, und im folgenden Jahr inszeniert Marciniak im Thalia Gaußstraße „Der Boxer“ nach dem gleichnamigen Roman des polnischen Literaturstars Szscepan Twardoch: Warschau, 30er Jahre, die kriminelle Unterwelt und mittendrin ein unerschrockener jüdischer Gangster, der sich „König von Warschau“ nennt und im Boxkampf seinen christlichen Gegner k. o. schlägt.

Eine dunkle, raue Inszenierung, die auf einer fast leeren Bühne ganz auf die SchauspielerInnen setzt und deren allen Klischees widersprechender Protagonist die Ambivalenz seiner Epoche kongenial widerspiegelt. Marciniak erhält dafür 2020 den renommierten Theaterpreis Der Faust. Jetzt kommen die Aufträge. Darunter auch einer vom Nationaltheater Mannheim, die Schillertage 2021 mit „Die ­Jungfrau von Orleans“ zu eröffnen.

Marciniak begann 2008 mit dem Theatermachen, nach dem Regiestudium in Krakau. Sie ging in die Provinz. Im südpolnischen Bielsko-Biała landete sie mit „Verbrechen“ von Witold Gombrowicz, einem der bedeutendsten polnischen Exilschriftsteller, ihren ersten Hit. Diese Inszenierung wurde 2012 zu allen wichtigen polnischen Theaterfestivals eingeladen, schaffte es sogar bis nach Seoul.

Ewelina Marciniak inszenierte danach in Breslau, Danzig, Krakau und Warschau. Als sie nach Freiburg ans Theater kam, war sie in Polen bereits eine arrivierte Regisseurin. Unter den zahlreichen ­Auszeichnungen, die sie dort erhielt, ist 2016 die vielleicht wichtigste, der Paszport Polityki, verliehen von der gleichnamigen Zeitschrift. Die KritikerInnen beschreiben sie als „junge Energie im polnischen Theater, als eine der interessantesten RegisseurInnen der jungen Generation“.

In Krakau, in der Stadt, in der sie das Regiehandwerk gelernt hat, kommt es 2015 zu einem Skandal. Marciniak inszeniert am renommierten Stary Teatr Elfriede Jelineks „Der Tod und das Mädchen“. Die Gazeta Wyborcza sieht in der Inszenierung den Anspruch der Regisseurin eingelöst, „den bohrenden Hunger nach Empfindung, ausgehend von einer massiven emotionalen Behinderung“, darzustellen.

Um das zu verwirklichen, hat Marciniak zwei tschechische Pornodarstellerinnen engagiert, die einen kurzen Auftritt haben, um mechanischen Sex vorzuführen. Das wird zum Kern der Skandalisierung, die dazu führt, dass sich der damalige Kulturminister Piotr Gliński (PiS) im Vorfeld der Premiere an einer Zensur versucht.

Aber das gelingt nicht. Obwohl am Tag der Premiere vor dem Theater Gebete organisiert werden und eine Menschenkette BesucherInnen davon abhalten soll, ins Theater zu gehen. Im Rückblick auf ihre Zeit in Polen stellt Ewelina Marciniak 2017 in einem Interview fest: „Es fehlt engagiertes und kritisches Theater.“

Etwas herauszufinden heißt bei ihr, so tief wie möglich die Figuren zu ergründen

Johanna von Orleans sagt in Marciniaks Schiller-Überschreibung: „Ich muss die Antworten noch gar nicht haben, wenigstens versuche ich etwas herauszufinden.“ Da spricht die Regisseurin, das ist es, was Ewelina Marciniak antreibt. Etwas herauszufinden heißt bei ihr, so tief wie möglich die Figuren zu ergründen und sie als ein wirkliches Gegenüber zu sehen. Daraus ergeben sich äußerst spannende Sichtweisen, mit denen sie es schafft, Klassiker von innen heraus neu zu interpretieren.

Eine seltene Gabe, über die im deutschsprachigen Thea­ter neben Marciniak noch zwei ­Regisseurinnen verfügen: ­Daniela Löffner und Anne Lenk. Ewelina Marciniak hat aber auch keine Angst vor dem Spiel an sich – und so verbindet sich in ihren Inszenierungen die Ernsthaftigkeit der Figurenbetrachtung mit einer unbändigen Lust am Spiel.

In „Die Jungfrau von Orleans“ beschreibt sie so eine Aufsteigerin, die beginnt, Macht und Gewalt zu genießen. König Karl dagegen ist ein träger antina­tio­naler Pazifist, dem, wären die Zeiten andere, die Sympathien vieler sicher wären. Im Kontext des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist gerade dieses über 200 Jahre alte Theaterstück, das die Besetzung Frankreichs durch britische Truppen zum Thema hat, beängstigend aktuell.

Ewelina Marciniaks erste Inszenierung beim Theatertreffen wird schon aus diesem Grund in Erinnerung bleiben.

„Die Jungfrau von Orleans“ läuft heute um 20 Uhr und morgen um 19.30 Uhr im Haus der Berliner Festspiele

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