meinungsstark
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Geschichtsrevisionismus von Julia Latynina in der „Novaya Gazeta“

Beilage der „Novaya Gazeta Europe“: „Putin ist der zweite Stalin. Vom Kult des Sieges zum Kult des Krieges: Der Kremlchef hat eine neue Ideologie für Russland im 21. Jahrhundert geschaffen. Sein Kampf gegen den Faschismus ist ein Fake – wie alles, was er tut“, taz vom 9. 5. 22

Liebe taz, ich unterstütze euch seit Langem gern, ihr seid eine wichtige Stimme mit Verve, Solidarität und Blick dahin, wo andere nicht hinblicken. Schön auch, dass ihr Gastgeber für eine Beilage der russischen Novaya Gazeta seid. Aber bitte so einen Text nicht unkommentiert auf eurer Homepage stehen lassen. Das ist Geschichtsrevisionismus der ganz üblen Ernst-Nolte-Art: Die tatsächliche Geschichte des Zweiten Weltkrieges sei, dass Stalin lange bevor Hitler an die Macht kam, diesen Krieg geplant hatte, der die ganze Welt erfassen und erst enden sollte, wenn auch noch die letzte argentinische Sowjetrepublik ein Teil der UdSSR geworden sein würde.

Constanze Semidei, Hamburg

„Alles gut!“ Quatsch! Nichts ist gut

„Der rote Faden: Sie sind hysterisch? Nehmen Sie es als Kompliment“, taz vom 7. 5. 22

Liebe tazzen, danke für diesen Artikel! Jenseits des politischen Aspekts nervt mich im Alltag auch das permanente „Alles gut!“. Es soll zum Beispiel auch heißen: Stell dich nicht so an, wenn ich dich als Fuß­gän­ge­r*in umfahre oder mich im Zug auf dich draufsetze. Alles gut? Mitnichten! „Alles gut!“ wird gerne auch genommen, um berechtigtes, aber unliebsames Hinterfragen im Keim zu ersticken. Inzwischen gehört es zu den ersten Sätzen kleiner Kinder, Deutsch Lernender und es ist in allen unpassenden Lebenslagen zu finden. Als Texterin stellen sich meine Nackenhaare auf!

Petra Große-Stoltenberg, Hattingen

Kriegsfolgen für die Nachkommen

„talk of the town: Ganz präsente Arroganz“, taz vom 10. 5. 22

Ich bin wütend. 77 Jahre nach Kriegsende wird noch immer die „präsente Kriegserfahrung“ der „Nachfahren der Aggressoren“ tabuisiert. Ich bin eine von diesen Nachfahren. Mein Vater wurde mit 21 Jahren eingezogen. 1941. Erst im Osten. In der Ukraine. Dann im Westen. Mein Vater war nicht in der NSDAP, aber er war Täter. Kam als an Leib und Seele versehrter Mann zurück aus dem Krieg. Der Krieg war damit nicht vorbei. Er tobte noch Jahre danach hinter verschlossenen Türen in unserem „Wohnzimmer“ weiter. Gewaltausbrüche. Flashbacks. Dissoziation. Schuldabwehr. 57 Jahre habe ich all das verdrängt. Um heute festzustellen, dass diese Erfahrungen präsenter denn je sind. Es sind in diesem Fall keine „abstrakten Lehren der Geschichte“, sondern Gefühlserfahrungen und Bilder, die tief im Innersten abgespeichert sind. Und bis heute in mein Erleben und Handeln wirken. Auch in das meiner Kinder. Das ist es, was Harald Welzer meines Erachtens als „präsente Kriegserfahrung“ bezeichnet. Ist es zynisch, dies auszusprechen? Ich meine nein. Das Gegenteil ist der Fall. Mit dem Annehmen und der Auseinandersetzung mit diesen schwierigen Gefühlen ist es aus meiner Erfahrung erst möglich, das leidvolle Kriegserleben all der Menschen in der Ukraine wahrzunehmen, zu betrauern und angemessen darauf zu reagieren. Ich bin höchst irritiert, dass das Gegenteil proklamiert wird. Dass das Tabu verstärkt wird, anstatt sich endlich damit auseinanderzusetzen. Akademisch und politisch wurde sie aufgearbeitet, die deutsche Geschichte. Aber kaum in den Familien. Luise Reddemann spricht von kollektiver Verdrängung und Abspaltung. Den Diskurs mit Tabus zu belegen ist kein guter Ratgeber, um verantwortungsvolle Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit zu finden. Es ist tatsächlich gerade in diesen Zeiten unabdingbar, die Ambivalenzen auszuhalten in dem, was vermeintlich gut und richtig oder falsch und schlecht ist. Ich fürchte mich derzeit – mehr denn je – vor Verengung im Denken und Handeln. Ich wünsche mir – auch von der taz – einen geweiteten Blick und die inhaltliche Auseinandersetzung, anstatt Aussagen vorschnell als ­„zynisch“ abzutun. Dorit Milkau, Albstadt