: Von tödlicher Armut
OPER Lorenzo Fiorini zeigt in Oldenburg eine neue Inszenierung von Puccinis „La Bohème“ – das Prekariat der Kreativwirtschaft hat hier nicht mal mehr ein Dachkämmerlein
VON ANDREAS SCHNELL
Ein schäbiger Kiosk, darüber ein wie von Kinderhand gemalter Komet – ja, ist denn schon Weihnachten? Nein, natürlich nicht. Aber dass die Oldenburger „La Bohème“ in die kalte Jahreszeit entführt, ist nicht nur dem Libretto geschuldet. Eigentlich sollte die Premiere nämlich schon im Winter stattfinden.
Aber das Personal dieses Opernklassikers ist schließlich auch im Sommer nicht zu beneiden. Maler, Dichter, Musiker ohne Anstellung und Einkünfte sind die Freunde Rodolfo, Marcello, Schaunard und Colline, ein ganz zeitloses kreativwirtschaftliches Prekariat. Wir treffen sie frierend um den Kiosk herumlungernd. In ihrer Not verbrennt Rodolfo, der Dichter, sogar eines seiner Manuskripte, damit sie es wenigstens ein bisschen warm haben, die Seele wärmen sie mit bitterer Selbstironie: „Sie geben dein Drama?“ – „In Flammen“.
Immerhin einer aus der Gruppe, der Musiker Schaunard, hat ein bisschen Geld verdient und kauft für die Freunde etwas zu essen. Der Vermieter, der das seine eintreiben will, muss in die Röhre gucken. Listig überführt ihn Rodolfo der Heuchelei. Allerdings: Seit wann kostet ein Platz auf der Straße denn Miete? Die vier Freunde scheinen nämlich am Kiosk zu wohnen, nicht einmal das berühmte Dachkämmerlein, das des Künstlers armer Poet noch hat, gestehen Regisseur Lorenzo Fiorini und sein Bühnenbildner Paul Zoller ihnen zu. Das ergibt zwar einige logische Brüche, denn so richtig eine Nachbarin hat ein Obdachloser ja eigentlich nicht. Aber es ist zugleich ein deutlich Fingerzeig: Armut, das ist ganz und gar nicht romantisch. Das bekommt vor allem die kranke Mimi (im Libretto ebenjene Nachbarin) zu spüren, die Rudolfo um Feuer für ihre Kerze bittet. Die beiden verlieben sich in einander.
In der Weihnachtssaison, wo sich die Künstler ein wenig Geld verdienen, trifft der Maler Marcello seine ehemalige Liebe Musetta. Sie kehrt zu ihm zurück. Wenig später verlässt Rodolfo seine Mimi, angeblich aus Eifersucht, in Wirklichkeit aber, weil er es nicht erträgt, wie das Mädchen vor seinen Augen stirbt. Marcello und Musetta trennen sich im Streit. Später treffen wir die Freunde noch einmal am Kiosk. Sie machen sich betrunken über ihr Elend lustig, bis Musetta mit der todkranken Mimi eintrifft. Ihre hilflosen Rettungsversuche sind vergebens. Mimi stirbt.
Dass ihr Tod kein Zufall ist, erkennt Rodolfo: Er nennt sie eine Blume, „die die Armut verblühen ließ“. Und dass die Künstlerclique als Obdachlose, als Ärmste der Armen gezeigt werden, ist da nur konsequenter Realismus. Im zweiten Bild stellt Fiorini dem Elend die üppige Warenwelt der Kaufhäuser entgegen, lässt im Publikum hektische Einkäufer, ausgelassene Kinder, verzweifelte Eltern aufmarschieren und livrierte Angestellte mit Schildern, auf denen in französischer Sprache „Frohe Weihnachten“ steht.
Nach dem Fest treffen sich die Bohèmiens auf einer Müllhalde wieder, ganz am Ende sind sie wieder am Anfang: Am Kiosk, dessen Betreiber, der Gipfel des Zynismus, seinen Laden ungerührt schließt, während Mimi davor stirbt. Soviel Realismus war manchem Opernbesucher wohl zu viel.
Ungeteilten Jubel aber gab es für das Gesangsensemble sowie für Orchester und Chor. Vor allem Inga-Britt Anderson als Musetta brillierte, Angela Bic gestaltete ihre Mimi facettenreich und bewegend. Stefan Heibach ist ein Rodolfo ohne Heldentenorallüren, Peter Felix Bauer als Schaunard, Paul Brady als Marcello und Andrey Valiguras als Colline überzeugten ebenfalls. Und das Oldenburgische Staatsorchester unter Johannes Stert bot eine makellose Leistung. Ein spätes, aber umso gelungeneres Weihnachtsgeschenk, sozusagen.
■ nächste Vorstellungen: heute & Samstag, 23. 6., 19.30 Uhr, Staatstheater Oldenburg