Vergilbte Ideale im Grünen

Heute vor 40 Jahren wurde die Ruhr-Universität Bochum eingeweiht. Sie brachte erstmals akademische Bildung ins Revier. Zum Jahrestag protestieren Studierende gegen drohende Gebühren. Denn für Arbeiterkinder wäre ein Studium dann zu teuer

von Gereon Asmuth
und Miriam Bunjes

„Der Besucher erreicht als Autofahrer oder mit dem öffentlichen Nahverkehrsmittel den Eingang der Universität. Aus den Haltestellen führen Treppen hinauf auf die Fußgängeebene. Ab hier begegnet ihm kein Fahrzeug mehr.“ Als die Ruhr-Universität Bochum (RUB) heute vor 40 Jahren eingeweiht wurde, brauchte man noch „etwas Phantasie“, um sich einen Gang durch die „ideale Universitätsstadt“ vorzustellen, schrieb der damalige NRW-Bauminister Joseph Franken in der Festschrift. Erst zwei der 13 Institutsgebäude waren fertiggestellt.

Der Besucher der realen Universitätstadt hat andere Probleme. An der U-Bahnhaltestelle versperren heute Barrikaden aus Holz den Weg. „Was ist jetzt schon wieder los?“, schimpft ein junger Mann mit Laptop. Die Antwort findet er auf einem Pappschild. „Mit Studiengebühren wird‘s eng“, steht darauf. Die Nachwuchsakademiker protestieren wie im gesamten Land gegen die von CDU und FDP geplante Einführung von Studiengebühren in NRW.

Ein paar hundert Meter weiter, im Audimax, liest Siegfried Grosse ein Protestflugblatt. „Furchtbar“, sagt der 80-jährige Sprachwissenschaftler. „Das hätten wir uns damals nicht träumen lassen, dass die Ruhrgebietskinder hier mal was für ihre Bildung bezahlen müssen.“ Damals, 1965, war der gerade 40-Jährige von der Universität Freiburg gekommen und träumte mit den anderen Gründungsprofessoren davon, hier etwas ganz Großes zu schaffen. „Diese Aufbruchstimmung“, schwärmt der alte Herr, „die hatte auch die Studierenden erfasst. Zusammen haben wir aus dem Nichts eine wunderbare Bibliothek zusammengestellt. Alles schien möglich.“ Die Studenten aus dem Ruhrgebiet erstaunten den jungen Professor. „Die meisten waren verheiratet, hatten ihr Abitur auf dem zweiten Bildungsweg gemacht und waren sehr, sehr strebsam.“

Eine Universität war in dem damals noch von Zechen und Stahlwerken geprägten Ruhrgebiet eine Novität. Im Bundesschnitt gab es damals 3,4 Studierende je 1.000 Einwohner. Im Revier waren es gerade mal 1,6. Wer studieren wollte, musste nach Münster oder Köln. Die erste Hochschulgründung nach dem Krieg brachte den Arbeiterkindern die Bildung vor die Haustür.

Hafen des Wissens

Die Ruhruniversität sollte zudem die Wissenschaft revolutionieren. Das Wissen aller Fächer, ob Geistes-, Naturwissenschaften oder technischer Disziplinen, sollte eine Symbiose bilden. Dafür wurde auf der grünen Wiese ein Komplex erreichtet, den man in maximal 15 Minuten durchschreiten kann. „Die Gebäude symbolisieren Schiffe: Sie haben am Hafen des Wissens angelegt“, erklärt Uni-Sprecher Josef König. Überall auf dem Campus wurde die Meeressymbolik verarbeitet: Das Dach des Audimax erinnert an eine Muschel, die 1990 gebaute U-Bahnstation hat ein wellenförmiges Dach.

In diesem Hafen des Wissens forschen heute etwa Raumplaner, Soziologen und Historiker gemeinsam am Zentrum für interdiszipinäre Ruhrgebietsforschung. „Die Zusammenarbeit der Disziplinen hat sich etabliert und wurde von den meisten Universitäten in Deutschland übernommen“, sagt König. „Damals war das revolutionär.“

Die einst revolutionäre Betonarchitektur aber zeigt erste Risse. Die Waschbetonplatten vor der Unibibliothek klappern, beinahe jede dritte hat sich aus ihrer Verankerung gelöst. Auf den wackelnden Platten stehen 25 Igluzelte und ein Pappschild mit der Aufschrift „Diese Uni ist besetzt“. Die 22-jährige Nadine sitzt auf einem alten Sofa und rührt energisch Milch in ihren Kaffee. „Studiengebühren verdrängen Studenten aus ärmeren Familie von den Universitäten“, sagt die Soziologiestudentin. Ihre Eltern verdienen „ein paar hundert Euro zuviel für Bafög“, sie geht deshalb arbeiten – „wie die meisten hier“, wirft Dominic ein. „Noch mehr arbeiten geht eigentlich nicht, dann leidet das Studium“, sagt Nadine. „Ich kann mir keine Studiengebühren leisten“.

Camp der Studierenden

Nadine, Dominic und die 25 CamperInnen sind das Protestkommittee der RUB gegen Studiengebühren. Seit Wochen zelten die Studierenden auf dem Campus, verteilen Flugblätter, veranstalten Podiumsdiskussionen und Vorlesungen zum Thema. Die meisten sind auch sonst irgendwie in die Hochschulpolitik involviert, sitzen im Studierendenparlament oder arbeiten in ihrer Fachschaft. „Es sind immer die Gleichen, die sich politisch engagieren“, sagt Nadine und schüttelt dabei bedauernd die schwarzen Locken. Die Protestler selbst studieren indes fleißig weiter, gehen zwischendurch in ihre Seminare und versuchen, früh ins Bett zu gehen. „Wir wollen ja schließlich Bildung“, sagt Dominik. „Aber eine, die sich alle leisten können.“

Noch erreicht die Ruhr-Universität ihr ursprüngliches Zielpublikum. Der Anteil der Arbeiterkinder ist überdurchschnittlich: Im Bundesgebiet haben gerade einmal zehn Prozent der Studierenden Eltern mit Hauptschulabschluss, in Bochum sind es 23 Prozent, so die aktuellste Statistik der nordrhein-westfälischen Studentenwerke. Zudem lernen hier viele Kinder der Gastarbeiter.

„Wir spiegeln damit die Sozialstruktur der Region wider“, sagt Unisprecher König. „Wir haben dadurch einen besonderen sozialen Auftrag, der uns auch heute deutlich bewusst ist.“ Senat und Rektor äußern sich entsprechend kritisch über Studiengebühren. „Wir können sie aber nicht kategorisch ablehnen, wir müssen auch an den wissenschaftlichen Wettbewerb denken“, sagt König.

Im AStA sieht man das anders. Kolja Schmidt braucht nur wenig Phantasie, um sich die Zukunft der Uni vorzustellen: „Arbeiterkinder wird es hier bald wohl keine mehr geben“. Für den Vorsitzenden der Koalition aus grüner Hochschulgruppe und den SPD-nahen RUB-Rosen im Studierendenparlament fällt die Geburtstagsbilanz negativ aus: „Wir sind weiter von der idealen Uni entfernt als je zuvor“.

Die wurde einst für rund 10.000 Studierende geplant. 32.000 sind dort heute immatrikuliert. „Die Folgen einer solchen Überfüllung sind bekannt“, schrieb Paul Mikat 1965 in der Festschrift zur Eröffnung der RUB. „Es sei nur an ungenügende Ausbildung, Verlängerung der Studienzeiten, Anonymität des akademischen Unterrichts, Ruf nach Einführung eines numerus clausus erinnert.“ Mikat war damals NRW-Kultusminister – und in der CDU.