Im Olymp wie im Hades

Mit „Rois et reine“ wird heute Abend die französische Filmwoche eröffnet: Arnaud Desplechin hält seinen jüngsten Film in Kamera und Schnitt sehr beweglich und manövriert auch mit der Geschichte leichthin zwischen den Sphären der Toten und der Lebenden, des Göttlichen und des Profanen

VON CRISTINA NORD

In manchen Filmen stört Unruhe. Die Unrast der Kamera, der rasche Wechsel von Einstellungsgrößen und Blickwinkeln, der schnelle Schnitt oder Jump Cuts haben etwas von hilfloser Spielerei. Dann wieder gibt es Filme, die, obwohl sie ganz ähnliche Mittel wählen, gerade wegen der nervösen Kameraführung, der sprunghaften Montage bestechen. Arnaud Desplechins jüngster Film, „Rois et reine“ („König und Königin“), ist ein solcher Film. Mit ihm eröffnet heute Abend die Französische Filmwoche; er ist damit zugleich Auftakt für eine Desplechin gewidmete kleine Werkschau. In „Rois et reine“ hat die Kamera so viel überschüssige Energie wie ein 16 Jahre alter Eckensteher im Wrangelkiez, und sie hat dessen pubertäre Unbeholfenheit, da die Bilder der vielen Jump Cuts wegen gleichsam zu stottern beginnen. Wenn zwei Figuren sich streiten, dann umkreist sie die Kamera – geführt wird sie von Eric Gautier –, und die Figuren halten ihrerseits nicht still. Größer könnte der Gegensatz zu einem Dialog kaum sein, der in der traditionellen Folge von Schuss und Gegenschuss aufgelöst wird.

Dann wieder verwandelt sich ein scheinbar realistischer Schauplatz – die Wohnung eines jungen Paares – in einen Raum, der aus Lars von Triers „Dogville“ stammen könnte: Der schwarze Hintergrund schluckt Möbel, Tapeten, Türrahmen, sodass die Darsteller in einem Vakuum agieren, als seien sie in eine andere, irreale Sphäre übergetreten. Später spricht ein alter, von langer Krankheit gezeichneter Mann in die Kamera. Etwas Rätselhaftes steckt in diesem Bild, in der Art und Weise, wie die Kontur des Alten mit der grüngrauen Farbe des Hintergrunds verfließt, sodass man denkt: Diese Figur spricht aus dem Jenseits zu den Lebenden. Intensiv nutzt Desplechin die Ausdrucksmöglichkeiten der Kamera und des Schnitts, der Farbgebung und der Bildkomposition, wodurch „Rois et reine“ wie eine Wunderkammer des Kinos erscheint.

Es geht um Existenzielles, um die Familie, den Tod, um das, was Menschen zusammenhält, und das, was sie trennt. Im Mittelpunkt stehen zwei Figuren, Nora (Emmanuelle Devos) und Ismael (Mathieu Amalric). Es braucht eine Weile, bis der Film darüber Auskunft erteilt, dass sie mal verheiratet waren. Desplechin nimmt sich die Freiheit, Beziehungen und Ereignisse nicht herzuleiten. „Rois et reine“ verzichtet auf Erklärung und Motivation, und das verleiht dem Film seinen freien Geist. Erst beim zweiten Sehen schleicht sich leiser Zweifel ein: Vielleicht (aber nur vielleicht) ist das Kalkül doch größer als die Freiheit.

Nora und Ismael leben in unterschiedlichen Städten, sie in Grenoble, er in Paris. Ihre Wege kreuzen sich nicht oft, und zugleich knüpfen sich an ihre Geschichten viele andere, die Desplechin in schweifender Form verhandelt. In Rückblenden erfährt man von Noras unglücklicher Schwangerschaft; der Vater des Kindes starb noch vor der Geburt. Gegen viele Widerstände setzt sie eine rückwirkende Eheschließung durch; gespenstisch ist die Szene, in der sie auf dem Standesamt vermählt wird, während der Stuhl neben ihr leer bleibt. Elf Jahre später taucht der tote Ehemann auf dem Flur eines Krankenhauses auf. Nora und er unterhalten sich über die vergangenen Jahre, das gemeinsame Kind und die postume Hochzeit. Wie von Zauberhand lässt Despelchin hier die reale Ebene seines Filmes in eine Vision der Protagonistin übertreten. Später fällt ein neues, verblüffendes Licht auf den Tod des Mannes – und damit auch auf Nora.

Ismael seinerseits wird gegen seinen Willen in die Psychiatrie eingewiesen. Fortan sorgt er mit seiner manischen Art dafür, dass sich „Rois et reine“ trotz der existenziellen Aufladung die Leichtigkeit bewahrt. Seiner Psychiaterin (Catherine Deneuve) erklärt er, als Frau könne sie die Seele eines Mannes nicht verstehen. Wenn er sich Zutritt zur Medikamentenkammer verschafft und sich mit stimmungsaufhellenden Pillen eindeckt, freut man sich mit ihm an dem Spaß, den er dann hat.

Unaufdringlich streut Desplechin Fragmente griechischer Mythologie ein. Dem todkranken Vater schenkt Nora eine Lithografie, „Leda und der Schwan“. Der Schwan, das war Zeus in einer seiner vielen Tiergestalten. Leda brachte vier Kinder zur Welt, zwei hat ihr Gatte Tyndareos, die anderen Zeus gezeugt. Vom Brüderpaar Kastor und Pollux galt jener als sterblich, dieser als unsterblich. Damit sie nach Kastors Tod nicht getrennt würden, war es den beiden gestattet, je einen Tag gemeinsam im Olymp, den nächsten im Hades zu verbringen. Ähnlich wandert „Rois et reine“ zwischen den Sphären der Toten und der Lebenden, zwischen dem Göttlichen und dem Profanen.

Französische Filmwoche: Programm und Information unter www.kultur-frankreich.de