leserinnenbriefe
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Ein alter Hut

■ betr.: „Inklusive Bildung. Alle für gemeinsames Lernen“,taz vom 8. 9. 09

Die Forderung der Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, Frau Evers-Meyer, sich klar zur UNO-Konvention für ein gemeinsames Lernen zu bekennen, ist überflüssig. Längst haben alle erkannt, dass ein inklusives Lernen von behinderten und nichtbehinderten Kindern in einer Schule generell sinnvoll und notwendig ist. Insofern ist die für Frau Evers-Meyer scheinbar überraschende Solidarität mit ihrem Aufruf „Gute Bildung“ über alle Parteigrenzen hinweg ein alter Hut.

Nicht die Frage nach dem „ob“, sondern nach dem „wie“ ist die entscheidende. Und den Mut, diese Frage zu stellen, beweisen längst nicht alle politischen Volksvertreter. Einen konkreten Zeit- und Kostenplan für die Umsetzung von inklusiver Bildung hat noch keiner erstellt.

Hier lohnt ein Blick in die oft gescholtene Förderschule: Die dortigen Strukturen (kleine Klassen, Teamteaching, Ganztagsschule etc.) lässt sich Deutschland aus gutem Grund und zu Recht viel kosten: aus Wertschätzung für Menschen mit einer Behinderung. Die Übertragung dieser Errungenschaften in eine „Schule für alle“ ist teuer, langwierig und vor allem aber: sinnvoll!

Wer inklusive Bildung für alle fordert und im gleichen Atemzug nicht erwähnt, dass ein solcher Schritt erstens sehr kostspielig und zweitens ein über Jahre andauernder Umstrukturierungsprozess ist, betreibt Augenwischerei. Genauso leicht ist es, gegen Krieg, Armut oder Hunger zu sein. Wo kommen die finanziellen Mittel her? An welcher Stelle wird dafür gespart? Wie viel ist uns die so herbeigesehnte inklusive Bildung eigentlich wert in Zeiten von Wirtschaftskrise, sozialer Kälte und Lehrermangel? Erst wenn diese Fragen gestellt werden, kann eine anregende und vor allem ehrliche Diskussion über inklusive Bildung in Gang gesetzt werden.

Ein Ziel vor Augen zu haben ist wichtig. Aber wenn man nicht den Mut und die Energie hat loszugehen, nützt einem das ehrenvollste Ziel auch nichts. PETER SCHÜTTERLE, Köln

Linke an der Realität messen

■ betr.: „Schlauer Oskar und verkehrte Ypsilanti“von Andreas Fanizadeh, taz vom 1. 9. 09

Nachdem ich nun schon seit Monaten enttäuscht bin von dem, was ich in der taz zur Linken insbesondere Oskar Lafontaine lese, scheint die taz zumindest in Teilen zur Normalität zu finden. Die Intensität, mit welcher leider auch die taz diese Partei und ihre Protagonisten verunglimpft, verhöhnt und offenbar verachtet, ist sicher nicht nur für mich schwer zu verstehen – und zu ertragen! Nach Jahrzehnten der Sektiererei und Isolation erhebt sich endlich eine Partei, welche die politische Linke vereinen kann und (fast) alles, was die taz hierzu beiträgt, ist Hohn und Spott.

Sicher gibt es bei einer neuen Partei vieles, was sich sortieren, organisieren und eine Linie finden muss. Längst durch die Krisen der vergangenen zehn Jahre widerlegt ist jedoch, dass die von der Linke vorgeschlagene Wirtschafts- und Finanzpolitik „unrealistisch“, „populistisch“ und „nicht finanzierbar“ sei. Gleiches gilt für die Kriegspolitik. Das Gegenteil ist nun durch die Politik der etablierten Parteien (insbesondere der Grünen) hinreichend bewiesen! Nehmt dies endlich zur Kenntnis und messt die Linke an ihren Aussagen in Bezug auf die Realität.

Ich erinnere mich noch gut, wie behutsam und verständnisvoll die taz die Anfangsphase der Grünen begleitete. Dies wünsche ich mir ebenso für die Linke und bin überzeugt, dass dies ein guter Teil eurer Leser auch wünscht. CHRISTIAN GLAUNSINGER, Stuttgart

Für den Profit gespart

■ betr.: „Jetzt kommen die lustigen Tage. Das Chaos bei der Berliner S-Bahn hört nicht auf“, taz vom 9. 9. 09

Als ein in London lebender Deutscher kommt einem dies wie ein Déjà-vu vor. In Deutschland wiederholt sich der Bahnprivatisierungsskandal aus Großbritannien: Hier sparte die Schienengesellschaft Railtrack plc an Wartung und Instandhaltung, was leider zu mehreren fatalen Zugunglücken führte. Erst als die Regierung dann einschritt und auf Wartung bestand, wurde die Gesellschaft bankrott und dann zum Glück vom Staat übernommen. Jetzt wird das Schienennetz von dem halb öffentlichen „not-for-profit“ Konzern Networkrail gemanagt.

In Berlin sieht man jetzt, was vorher schon beim ICE klar wurde: Die DB AG sparte an der Wartung, um an der Börse attraktiv zu werden. Das jetzige Chaos ist nicht auf das Versagen einzelner Mitarbeiter oder Wartungshallen in Berlin zurückzuführen, sondern die Folge ganz bewusster Managemententscheidungen der Bahn.

Der Bund sollte sich generell überlegen, ob ein Börsengang der Bahn Sinn macht oder ob man die Bahn nicht für den Fahrgast und die Umwelt statt für den Profit betreiben sollte. ANDREA WOELKE, London